Welche Wirkung hat Selenskyjs US-Reise?
In einer Rede vor dem US-Kongress hat sich der ukrainische Präsident Selenskyj für die bisherige Hilfe bedankt. Er hoffe, dass der Kongress die Ukraine auch künftig parteiübergreifend unterstützen werde, sagte er. Ab Januar stellen die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Europas Presse bilanziert Selenskyjs erste Auslandsreise seit dem russischen Angriff im Februar.
Gelungene Inszenierung
Das Talent des ukrainischen Präsidenten, bei den Reden vor ausländischen Parlamenten den richtigen Nerv zu treffen, beeindruckt die taz:
„Anders als etwa im trotz Zeitenwende noch immer militärskeptischen Deutschland konnte Selenski in den USA das ganze Pathos des tapfer sein Land verteidigenden Soldaten auffahren – mit Orden direkt von der Front. Dem nicht zuzujubeln, wäre ein No-go für US-Politiker*innen fast jeglicher Couleur. ... Insofern war der Besuch selbstverständlich eine Inszenierung von der ersten bis zur letzten Minute – aber eine mit politischen Zielen. Die sind zumindest kurzfristig erreicht worden.“
So spricht ein echter Anführer
Der Journalist Stanislaw Kutscher vergleicht in einem von Echo übernommenen Telegram-Post Selenskyjs Rede mit der Putins vor dem russischen Militärkollegium am gleichen Tag:
„Es genügt, Fotos und Videos von Selenskyjs und Putins Reden zu vergleichen, um zu erkennen, was einen echten Führer einer Nation von einem Diktator unterscheidet, der sich selbst zum nationalen Führer ernannt hat. Einen Mann, der bereit ist, sein Leben für sein Land zu riskieren, von einem Mann, der fähig ist, sein Land zu riskieren, um lebenslang an der Macht zu bleiben. ... Es war das Vertrauen in die Richtigkeit seiner Sache, gepaart mit Aufrichtigkeit, Einfachheit und dem Talent, an die Menschlichkeit zu appellieren, das die Rede des ukrainischen Präsidenten vor dem US-Kongress zu einem wahrhaft historischen Ereignis machte.“
Auch für Biden ein Erfolg
Der US-Präsident hat seine Rolle als Anführer des Westens unterstrichen, stellt Jyllands-Posten fest:
„Auch für Biden war der Besuch ein Erfolg. Es gab ihm die Gelegenheit, die Vereinigten Staaten als erste Macht der freien Welt neu zu lancieren. ... Der eine Tag in Washington im Leben von Präsident Selenskyj könnte sich als goldene Investition erweisen, nicht nur in die Zukunft der Ukraine. Die USA haben sich nun auch in Europa wieder engagiert, das ist zu spüren. Für Frankreich unter Präsident Macron steht fest: Es wird keiner hinter Kyjiws Rücken nach Moskau gehen, um den Krieg zu stoppen.“
USA stärken Ostmitteleuropa
Das Machtgefüge in Europa ändert sich, glaubt Wprost:
„Die Niederlage Moskaus, die Selenskyj und Biden in Washington als strategisches Ziel ausgegeben haben, wird auch die Schaffung eines starken politisch-militärischen Machtzentrums in Ostmitteleuropa bedeuten, das sich auf eine enge Allianz mit den USA stützt. Neben der Ukraine werden auch Polen und andere Nato- und EU-Mitgliedstaaten der Region Teil davon sein. Sie werden zu einer natürlichen Ergänzung, wenn nicht gar zu einem Gegengewicht zu Deutschland und Berlin, das bis vor nicht allzu langer Zeit die europäische Ostpolitik kontrollierte.“
An Washington führt kein Weg vorbei
Für France Inter ist Selenskyjs Wahl für sein Reiseziel absolut nachvollziehbar:
„Viele Stimmen bedauerten gestern, dass Selenskyjs erste Reise nach Kriegsbeginn nach Washington führte und nicht nach Brüssel oder in eine andere europäische Hauptstadt. Aber seien wir ehrlich: Europa hat zwar in den letzten zehn Monaten nicht versagt, aber es hatte nicht die Mittel und vor allem nicht die Geschlossenheit und den nötigen politischen Willen, um die militärische Hilfe zu gewährleisten, die der ukrainischen Armee und dem ukrainischen Staat nun gewährt wurde. Die Rolle der USA war und ist nach wie vor absolut entscheidend, wie die jüngste Entscheidung von Joe Biden, Patriot-Raketen nach Kyjiw zu schicken, zeigt.“
Ein Bild der Einheit
Selenskyj und die US-Regierung senden vor allem ein Signal an Putin, meint Večernji list:
„Allein die Ankündigung, Patriots in ein Land im Krieg zu schicken, das kein Nato-Mitglied ist, ist ein neuer Meilenstein. Und eine Nachricht an den russischen Präsidenten, der vielleicht hoffte dass die USA nach den Midterms ihre Unterstützung für die Ukraine ändern oder abschwächen würden. Putin solle Selenskyjs Besuch in den USA als Bestätigung dafür deuten, dass Washington nicht aufhören wird, Kyjiw in der Verteidigung vor dem russischen Aggressor zu helfen, sagte ein Beamter des Weißen Hauses, der die US-Journalisten vor dem offiziellen Besuch informierte.“
Wie Churchill an die Kraft der Demokratie glauben
Gazeta Wyborcza zieht historische Parallelen:
„Am Mittwoch bestieg Selenskyj am Flughafen Rzeszow ein US-Flugzeug und brach zu seiner ersten Auslandsreise seit Beginn der russischen Aggression auf. Es ist eine durch und durch symbolische Reise. Im Dezember 1941 verbrachte der britische Premier Churchill zehn Tage an Bord des Schlachtschiffs Duke of York und fuhr in die USA, um sich mit Präsident Roosevelt zu treffen. Die Politiker führten stundenlange Gespräche zu einer Zeit, als Hitlers Armeen Moskau erreichten und der Verbündete des Dritten Reichs, Japan, weitere Gebiete im Pazifik eroberte. Es war schwierig, damals Optimist zu sein. ... Churchill und Roosevelt glaubten jedoch an den Sieg, weil die freie Welt stärker war als die Diktaturen.“
Der große Moment für die EU kommt noch
Für die Wiener Zeitung ist es verständlich, dass die Reise nicht nach Brüssel führte:
„Aus Selenskyjs Sicht ist es schlüssig, für die symbolisch aufgeladene erste Reise nach Washington zu fliegen. Die Fotos vom Handshake mit dem mächtigsten Mann der Welt zur Begrüßung oder im Oval Office sind in dieser Kategorie die härteste Währung. Weder im technokratischen Charme Brüssels noch in Berlin oder Paris findet sich dafür Gleichwertiges. Langfristig führt aber für die Ukraine kein Weg an der EU vorbei. Irgendwann wird dieser Krieg enden, dann geht es um den Wiederaufbau und die wirtschaftliche und politische Heranführung des Riesenlandes an die EU. Sowohl die Wirtschaftshilfen wie auch die privaten Investitionen werden zum überwiegenden Teil aus Europa kommen.“
Wir sollten alle dankbar sein
Der Westen hat gute Gründe, bei der Unterstützung für Kyjiw nicht nachzulassen, erinnert The Daily Telegraph:
„Selenskyj sollte nicht wie ein Bettler in den Westen kommen müssen - es sollte umgekehrt sein. Die Ukraine hat den Ruf einer ehemals gefürchteten Armee faktisch ruiniert und sie als Bedrohung für die Nato beseitigt. Sobald Russland besiegt ist, gibt es allen Grund zu der Annahme, dass sich Europa langfristig mehr auf Wirtschaftswachstum und Wohlstand konzentrieren kann. Das ist die Prämie, wenn wir den inspirierenden Kampf von Selenskyj und seinem Land für Demokratie und Souveränität weiterhin unterstützen können.“
Putin noch stärker ächten
Enttäuscht zeigt sich der Politologe Oleg Saakjan auf seiner Facebook-Seite über den Umstand, dass die USA Russland nicht als Terrorstaat einstufen:
„Die Einstufung der Russischen Föderation als Aggressorstaat ist ein Feigenblatt, weil man das Land nicht als Förderer des Terrorismus einstufen will. Die Einstufung als Aggressor ist ganz okay - eine politische Bewertung, die aber keine wirklichen Konsequenzen mit sich bringt. Hätte man Russland als Sponsor des Terrorismus eingestuft, hätte das automatisch gewisse Mechanismen und Regelungen in Bezug auf Russland und seinen Paria-Status in Gang gesetzt.“