Kampfjets für die Ukraine?
Nach seinen Treffen in London und Paris hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag vor dem EU-Parlament in Brüssel geredet. Um in der Ukraine und ganz Europa die Demokratie zu verteidigen, brauche es weitere Waffenlieferungen und insbesondere auch Kampfjets aus dem Westen, erklärte er. Europas Presse ist da geteilter Meinung.
Europa muss Preis für Freiheit bezahlen
Beim Besuch von Wolodymyr Selenskyj in Paris hat Emmanuel Macron am Mittwoch betont, Russland dürfe nicht siegen. Dies ist nun konkret umzusetzen, drängt Le Monde:
„Sollten Wörter einen Sinn haben, ist er in diesem Fall bedeutungsschwer. Russland 'am Siegen' zu hindern, erfordert ein umfangreicheres finanzielles und militärisches Engagement als bisher. Es umfasst eine auf Hochtouren laufende Rüstungsindustrie, noch schärfere Sanktionen, Kürzungen bei anderen Haushaltsposten sowie eine resiliente und solidarische Gesellschaft. Es bedeutet, wie Emmanuel Macron am 19. August 2022 beteuerte, 'den Preis für die Freiheit zu zahlen'. ... Nun ist der Zeitpunkt gekommen, den öffentlichen Diskurs an die Realität anzupassen und die Öffentlichkeit auf den Ernst der Lage vorzubereiten.“
Offensive Aktionen könnten Krieg in die EU tragen
In Expresso mahnt der Politologe Francisco Proença Garcia zur Zurückhaltung:
„Wir müssen der Ukraine alle möglichen Mittel zur Verfügung stellen, damit sie sich verteidigen und ihr Territorium zurückgewinnen kann, aber wir müssen auch umsichtig sein. Im konkreten Fall der F-16 glaube ich, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. In Zukunft, nach einem Friedensabkommen - ja, der Krieg wird eines Tages zu Ende gehen - muss die Ukraine über diese Mittel verfügen. Gegenwärtig müssen wir berücksichtigen, dass die F-16 eine komplexe Waffe mit einer großen Reichweite sind, auch für offensive Aktionen, sodass der Krieg mit ihnen weiter eskalieren und sich auf EU-Territorien ausweiten könnte.“
Den Krieg eskaliert Putin, nicht Flugzeuge
In der Slowakei wird die Lieferung des MiG-29-Kampfflugzeuges an die Ukraine diskutiert. Die Pravda widerspricht Stimmen im Land, wonach Putin damit nur unnötig gereizt würde:
„Das ist ein Missverstehen von Putins Strategie und verwechselt den Angreifer mit dem Opfer. Derjenige, der hier überhaupt den Krieg eskaliert, ist Putin. Der unprovozierte Angriff auf einen kleineren Nachbarn, die Zerstörung der zivilen Infrastruktur und die systematische Vernichtung der ukrainischen Nation sagen wohl alles. Es sind Putin und seine propagandistischen Marionetten, die uns mit der nuklearen Bedrohung Angst einjagen. ... Obwohl Putin die Rolle eines unberechenbaren Verrückten spielt, handelt er mehr oder weniger rational. Ein Angriff auf die Nato ist für ihn eine rote Linie. “
Der Westen braucht den längeren Atem
In der Kampfjet-Diskussion geht es nicht nur um die kurzfristigen Ziele, erinnert Dagens Nyheter:
„Selenskyj möchte jetzt 'Flügel', um die bevorstehende [russische] Offensive abwehren zu können, aber die Frage ist komplexer. ... [Kampfjets] wären eine große Hilfe, aber vor allem auf längere Sicht. Der britische Premier Rishi Sunak [hat betont], dass der Westen die Schuldigkeit hat, der Ukraine hier und jetzt zu helfen, dass Kyjiw aber auch unterstützt werden muss, um sich in Zukunft verteidigen zu können. Er begreift, dass der Krieg lange dauern wird und dass die Zeit Putins wichtigste Waffe ist. Wenn Russland besiegt werden soll, muss die Außenwelt ausdauernder sein und weiter denken als der Tyrann im Kreml.“
Bedroht wie Israel 1973
Echo24 stellt sich hinter die Forderungen der Ukraine und erinnert an die massive Hilfe der USA für Israel im Jom-Kippur-Krieg 1973:
„Wenn US-Präsident Richard Nixon damals über jedes neue Waffensystem nachgedacht und sich gefragt hätte, ob 30 Panzer noch in Ordnung sind, aber 31 bereits die rote Linie überschreiten, würde Israel heute vielleicht nicht mehr existieren. Ebenso sollte der Westen jetzt aufhören zu zögern und den Ukrainern alles geben, worum sie bitten. ... Wenn die Ukraine Putin endlich besiegen soll, wird sie konsequente und massive Lieferungen von allem brauchen, wie Israel 1973.“
Man ist der Ukraine Klartext schuldig
Der Westen muss seine roten Linien klären, fordert die taz:
„[A]nders als Macron und Scholz redet die ukrainische Führung Klartext: Sieg, das heißt Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine – nicht nur aus den seit dem 24. Februar 2022 besetzten Gebieten, sondern auch aus dem Donbass und von der Krim. Zur Erreichung dieses Ziels sollen die westlichen Staaten Kampfflugzeuge liefern – für Scholz eine rote Linie, doch derer gab es schon einige. Solidarität, ja bitte. Aber hat sie auch Grenzen? Nicht zuletzt diese Frage muss der Westen eindeutig beantworten. Das ist er vor allem den Ukrainer*innen schuldig.“
Grenzen von 2021 sollten das Ziel sein
Kampfjets sind keine Lösung, warnt The Guardian:
„Der einzig vernünftige Ausweg aus diesem Konflikt wird fast nicht mehr erwähnt: die Wiederherstellung einer Version der Grenzen von 2021, auf die man sich im Rahmen des Minsker Abkommens 2014 geeinigt hatte und die von Kyjiw und europäischen Vertretern akzeptiert wurde. ... [Durch Kampfjet-Lieferungen] würde man eine tödliche Eskalation riskieren ohne der Ukraine auf dem Boden wirklich zu helfen. Es würde westliche Regierungen und die Bevölkerung spalten. Und deshalb lohnt es sich nicht, das Risiko mit den Jets einzugehen.“
Klares Bekenntnis zur Demokratie
Der Hauptaspekt in Selenskyjs Reden war laut Jurist Leonid Nikitinski in Nowaja Gaseta Ewropa nicht die Kampfjet-Frage:
„Hinter der Aufzählung der geforderten Waffen droht der eigentlich wichtigste Punkt seiner Rede - die Rechtsstaatlichkeit als Regierungsform, die die Ukraine künftig mit Europa teilen will - unbemerkt zu bleiben: 'Das ist unser Weg nach Hause.' ... Es gibt keine Garantie, dass die Ukraine nach vielen Monaten des Ausnahmezustands (Kriegsrechts) nach dem Ende der Feindseligkeiten nicht selbst in den Autoritarismus abgleitet. Wie auch immer es ausgeht, die Versuchung wird groß sein. Aber vorerst glaubt ihr Anführer an den Rechtsstaat - und das, scheint mir, aufrichtig.“
Nicht auf Dreiecksbeziehung hoffen
Italiens Ministerpräsidentin Meloni fühlte sich ausgeschlossen, als sich Scholz und Macron in Paris mit Selenskyj trafen. Ihre offen geäußerte Kritik am Treffen hält La Repubblica für lächerlich:
„Rom muss die Falle vermeiden, immer wieder aus dem alten karolingischen Paar - so angeschlagen es auch sein mag - eine Dreiecksbeziehung machen zu wollen. Für Paris werden die Beziehungen zu Berlin stets Priorität haben. Italiens Ziel kann es nicht sein, eine bestehende Ehe zu zerstören, sondern vielmehr die Beziehungen zu Deutschland parallel dazu durch den [jüngst in Berlin] diskutierten gemeinsamen Aktionsplan zu stärken.“
Waffen gegen die bevorstehende Offensive
Das Hauptziel der Reise ist für Strana eindeutig:
„Selenskyjs Äußerungen über die Notwendigkeit, Kyjiw mit Kampfjets zu beliefern, zeigen, dass seine Europareise ein Versuch ist, die Lieferung dieser und anderer Waffen an die Ukraine zu intensivieren. Denn selbst die versprochenen Panzer kommen offensichtlich nicht rechtzeitig für die sowohl vom Westen als auch von Kyjiw erwartete russische Offensive. ... Kyjiw und der Westen sind jedoch fast zweifelsfrei davon überzeugt, dass eine Offensive unmittelbar bevorsteht.“
Die Briten waren eben die Ersten
Für Le Soir ist klar, warum das Reiseziel London ganz oben auf der Liste des ukrainischen Präsidenten stand:
„Selenskyj kommt weder aus Höflichkeit noch aus diplomatischen Gründen nach Europa - seine Reise hat einen ganz pragmatischen Ursprung: Er kommt, um Geld, Kampfflugzeuge sowie Waffen mit größerer Reichweite und Munition zu fordern. ... Deshalb liegt London als oberste Priorität auf der Hand: Großbritannien war das erste Land, das die Entsendung schwerer Panzer beschloss. Diese Argumente gelten auch für Deutschland und Frankreich, die beide für Waffenlieferungen entscheidend sind und denen Selenskyj nebenbei die Chance gibt, ihre als wackelig empfundene Haltung zu festigen.“
Westen muss jetzt Kampfjets liefern
Beeindruckt von der Wortgewalt Selenskyjs ist The Times:
„Präsident Selenskyjs Ansprache vor dem Parlament war witzig, bewegend, kraftvoll und überzeugend. Er würdigte umfassend die militärische Hilfe und politische Unterstützung, die Großbritannien bereits geleistet hat. Er verwies darauf, dass dies nicht bloß ein örtlich begrenzter Kampf gegen russische Aggression sei, sondern ein symbolischer Kampf zwischen dem totalitären Bösen und den Werten der Demokratie. ... Der stürmische Applaus der Abgeordneten war nicht einfach nur Höflichkeit: Die vorangegangene Debatte im Unterhaus zeigte, dass sich alle Parteien darin einig sind, alles zu tun, um der Ukraine zu helfen. ... Dies sollte die Nato veranlassen, der Ukraine die Kampfjets zu geben, die zum Überleben benötigt werden.“
Nächster Schritt nach dem üblichen Hin und Her
Der britische Premier will die Verfügbarkeit für Kampfjet-Lieferungen prüfen lassen. Irish Independent erkennt ein sich wiederholendes Muster:
„Erst bittet die Ukraine um ein fortschrittlicheres Waffensystem. Die USA sagen nein, fordern die Ukraine aber auf, sich Unterstützung bei seinen europäischen Nachbarn zu suchen. Die Nato-Staaten in Europa zeigen sich dann widerwillig. Sie wollen sich nicht zu etwas verpflichten, was Russland provozieren könnte – es sei denn, die USA geben Rückendeckung. Es folgt ein monatelanges Hin und Her. Schließlich sagt das Weiße Haus ja – und weitere Waffen werden geliefert. So war es bei den Luftabwehrsystemen, bei gepanzerten Kampffahrzeugen und zuletzt bei den Kampfpanzern.“
Rom wird abgehängt
Früher hätten Scholz und Macron auch Italien in ein solch wichtiges Treffen einbezogen, erinnert La Repubblica und bedauert, dass das Land unter Giorgia Meloni an Einfluss verloren hat:
„Es geht nicht nur um die Ukraine-Krise. Meloni wurde von dem Gipfel mit Selenskyj nicht ausgeschlossen, weil im Kreise ihrer Regierungsmehrheit nicht wenige Putin-Freunde sitzen. … Macron und Scholz haben sie ausgeschlossen, weil dieses Italien nicht mehr homogen mit dem europäischen Projekt ist. ... Im Gegenteil, innerhalb weniger Monate ist es wieder zu einer Belastung geworden wie zu Berlusconis Zeiten. Macron und Scholz brauchten Mario Draghi. Auf Giorgia Meloni und ihre Regierung verzichten sie gerne.“