Wahl am 14. Mai: Wer macht das Rennen in der Türkei?
Es ist keine Wahl wie jede andere: Am 14. Mai wählt die Türkei ein neues Parlament und gleichzeitig ihren Präsidenten. Derzeit liegt der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu ungefähr gleichauf mit Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan. Mit Spannung wird in Europas Presse abgewartet, ob es dem Oppositionsbündnis gelingen kann, gegen den seit Langem regierenden Erdoğan und seine AKP zu gewinnen.
Der Herausforderer ist nicht viel pflegeleichter
Der Westen sollte sich keine zu großen Illusionen darüber machen, dass er es nach einem Sieg von Kılıçdaroğlu leichter haben würde, warnt Lidové noviny:
„Kemal Kılıçdaroğlu ist nicht so prowestlich, wie es scheinen mag. Schließlich vertritt er bei den Wahlen nicht nur die von Atatürk gegründete CHP; er will auch andere Wähler erreichen. Daher hat er auch eine antiwestliche und antieuropäische Rhetorik, schließlich ist die CHP ziemlich nationalistisch. Gleichzeitig drückt er Verständnis für Religion in der Politik aus. ... Und in der Außenpolitik sind sich Erdoğan und Kılıçdaroğlu überraschend ähnlich.“
Machtapparat wird Niederlage überdauern
Sollte Erdoğan die Wahl verlieren, hätte er noch einige Asse im Ärmel, warnt der türkische Journalist Yavuz Baydar in Le Monde:
„Vor allem, wenn er den Ausnahmezustand verlängert und den offiziellen Sicherheitsapparat, aber auch bewaffnete Unterstützer einschließlich Banden des organisierten Verbrechens mobilisiert, die alle genauso wie die regierungstreuen Wirtschaftsmilieus vom Korruptionssystem profitieren. Es gibt zu viele Kreise, die Erdoğan nahestehen und die nicht daran denken, ihre Privilegien oder ihren Lebensstandard aufzugeben oder sich vor der Justiz zu verantworten. ... Es ist wichtig zu betonen, dass diese Führungskräfte, sollte Erdoğan die Wahl verlieren, im Justiz- und Sicherheitssystem verbleiben werden.“
Kurden wollen lieber Kılıçdaroğlu
Die kurdennahe HDP, die als Yeşil Sol Parti in die Wahlen gehen wird, hat angekündigt, Kemal Kılıçdaroğlu zu unterstützen. In der Kurdenhochburg Diyarbakır hofft man sehnlichst auf einen Regierungswechsel, berichtet Gazete Duvar:
„Vielleicht haben die Leute, mit denen wir gesprochen haben, auf Diyarbakır geschaut und voller Überzeugung gesagt: 'Erdoğan wird gehen'. Natürlich drückten sie dies zusammen mit der Besorgnis aus, die sie im Hinterkopf haben: 'Wenn nicht geschummelt wird'. Es gab einige, die von der Leistung des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu in der letzten Zeit beeindruckt waren. Aber auch so ist die Mehrheit bereit, Kılıçdaroğlu als kleinerem Übel die Stimme zu geben.“
Eine Kampagne wie Kılıçdaroğlus gab es noch nie
Die Betonung des Oppositionsführers, das Volk miteinander aussöhnen zu wollen, ist von großer Bedeutung, schreibt der seit Jahren inhaftierte Kulturmäzen Osman Kavala auf T24:
„Sollte Kılıçdaroğlu gewählt werden, wäre er der erste Staatspräsident, der mit der Betonung so einer Mission sein Amt antritt. Die Tatsache, dass sechs politische Parteien, die aus Bewegungen hervorgegangen sind, deren ideologischen Linien in der Vergangenheit zu Polarisierung geführt haben, nun ein gemeinsames Programm zur Verwirklichung der Prinzipien von Recht und Demokratie ausgearbeitet haben, ist für die Erzielung eines gesellschaftlichen Konsenses äußerst wichtig. Diese Situation kann auch als Garant für das Aussöhnungsversprechen angesehen werden.“
Historische Chance für die CHP
Ein Erfolg Kılıçdaroğlus wäre ein außergewöhnliches Ereignis in der Türkei, hebt LRT hervor:
„Von der Zeit unter Mustafa Kemal Atatürk, der als Vater der modernen Türkei gilt, bis zu ihrer langen Geschichte in der Opposition hat die Partei eine komplexe und interessante Geschichte. ... Die CHP hat seit 1950 keinen Präsidenten, seit 1979 keinen Premier und seit 1999 keinen Parlamentspräsidenten mehr gestellt. Wenn die Partei bei den Parlamentswahlen, die gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen stattfinden, gut abschneidet und ihr Vorsitzender Kılıçdaroğlu auch noch Präsident wird (was heute aufgrund des Präsidialsystems im Lande besonders wichtig ist), wäre dies ein durchschlagender Erfolg.“
Viele Gründe für Kurden, gegen Erdoğan zu stimmen
Bei diesen Wahlen kann der amtierende Präsident wohl nicht mehr auf die kurdischen Wähler zählen, von denen bisher ein Drittel für ihn stimmte, analysiert Jutarnji list:
„Man schätzt, dass diese loyale Gruppe der AKP und Erdoğan den Rücken kehrt - wegen der schwierigen Wirtschaftslage, dem konstanten Verfall der Lira, der hohen Inflation, die 50 Prozent übersteigt, der katastrophal schlechten Reaktion auf das Erdbeben im Februar, welches mehrheitlich kurdisches Gebiet heimgesucht hat und der allgemein schlechten Erfahrungen mit der Regierung des Sultans nach dem erfolglosen Putsch im Juli 2016. Dazu kommt der starke Druck auf die kurdische Gemeinschaft. Auch die Abwanderung junger Wähler, die nur Erdoğans Führung kennen und Veränderung wollen, dürfte eine Rolle spielen.“
Reichlich Ungewissheiten für eine Stichwahl
Nach aktuellen Umfragen liegt Kılıçdaroğlu zwar vor Erdoğan, verfehlt aber eine absolute Mehrheit. Der Ausgang eines zweiten Wahlgangs ist schwer vorauszusagen, meint die regierungsnahe Sabah:
„Es gibt in unserem Land keine Präzedenzfälle für zweite Wahlgänge und es ist nicht möglich, vorherzusagen, wie sich die Wähler verhalten werden. ... Es gibt mindestens vier Ungewissheiten: 1. Wie hoch ist der Stimmenanteil von Erdoğan und Kılıçdaroğlu in der ersten Runde und wer wird vorne liegen? 2. Wie wird das Ergebnis der Parlamentswahlen sein und wie wird die Sitzverteilung aussehen? ... 3. Zu welchem Kandidaten werden die [anderen Kandidaten] İnce und Ogan ihre eigene Wählerschaft leiten (können)? 4. Was für eine Kampagne werden die Kandidaten in der zweiten Runde fahren?“
Stimmabgabe im Erdbebengebiet erleichtern
Geschätzt über drei Millionen Menschen haben nach den Erdbeben den Südosten der Türkei verlassen, doch nur 133.000 von ihnen haben sich für die Wahl in anderen Provinzen registriert, analysiert Habertürk-Kolumnistin Sevilay Yılman:
„Es besteht das Risiko, dass bei einer so historischen und kritischen Wahl drei Millionen oder sogar noch mehr Bürger aus dem Erdbebengebiet ihre Stimme nicht abgeben werden, und dieses Risiko sollten Opposition und Regierung ernst nehmen. Die Wähler, die nach dem Erdbeben ihre Stadt verlassen mussten, sollten zumindest dort wählen können, wo sie registriert sind. Sie sollten dazu Flugzeuge, Busse, Züge und Autos erleichtert nutzen können. Turkish Airlines sollte Hin- und Rückflüge am 14. Mai zu günstigen Preisen bereitstellen. Das sollte man bereits jetzt planen.“
Mittelschicht nicht aus dem Blick verlieren
Dass sich das Oppositionsbündnis in seinem Wahlprogramm auf die Bekämpfung von Armut konzentriert, birgt auch Gefahren, bemerkt Yetkin Report:
„Die Mittelschicht der Angestellten war der größte Verlierer des letzten Jahrzehnts. Nicht genug, dass sie jahrelang unter einer unverhältnismäßigen Einkommensteuerbelastung gestanden hat, in den letzten Jahren ist auch noch ihr Einkommen im Vergleich zum Mindestlohn rapide gesunken. Die Regierung ignoriert diese Schicht und legt ihr nur Kosten auf, weil sie ohnehin keine Stimmen von ihr erhält, doch das Bündnis der Nation sollte sie nicht als sichere Bank sehen und vernachlässigen. Die Wähler der Mittelschicht sollten nicht gezwungen werden, ihre Klasseninteressen aufzugeben, um ihre Freiheit wiederzuerlangen.“
Wettkampf in demonstrierter Frömmigkeit
Diken kritisiert die von allen politischen Lagern zur Schau gestellte Religiosität:
„Anstatt nur ihren Respekt für den Glauben und religiöse Lebensweise zu zeigen, ist die Opposition mit Moschee-Eröffnungen, Zeremonien mit Gebeten, Kopftuch tragenden Politikerinnen beim Fastenbrechen und unnötigen Aussagen wie 'ich stamme vom Propheten ab' in einen frommen Wettstreit mit der Regierung getreten, der nicht nur nutzlos ist, sondern auch eine große Gefahr für das Land in der Zukunft darstellt. ... Die Opposition ist sich nicht darüber im Klaren, dass sie den Wandel [zu einer Politik, in der Religion eine dominierende und problematische Rolle spielt] durch ihren Wettbewerb mit der Regierung sogar noch verfestigt.“
Im Verhältnis zu Europa wird sich nichts ändern
Die EU zeigt ihr Interesse an den türkischen Wahlen nicht offen, schreibt Jutarnji list:
„Die Wahlen in der Türkei werden aus Brüssel mit großem Interesse beobachtet. Wegen des empfindlichen Verhältnisses zum türkischen Präsidenten Erdoğan, der schon seit 20 Jahren regiert, mal als Premier, mal als Präsident, trauen sich die EU-Vertreter nicht öffentlich zu sagen, welches Wahlergebnis sie sich wünschen. ... Die Türkei wird nach den Wahlen Mitte Mai vielleicht anders aussehen, aber das wird nicht viel am Verhältnis zur EU ändern. Ehrlich gesagt will die EU die Türkei als Mitglied in nächster Zukunft gar nicht, selbst wenn sie alle Voraussetzungen einer Mitgliedschaft erfüllte. Denn die Türkei ist ihr einfach ein zu großer Happen.“
Abstimmung auch über das Präsidialsystem
Bei der Wahl geht es um Grundsätzliches, meint die regierungsnahe Sabah:
„Diese Wahl ist nicht nur eine Präsidentschafts- und Parlamentswahl. ... Sie ist zugleich ein Referendum. Ein Referendum über das System. Die Nationale Allianz [die Opposition] stützt ihre Kampagne auf einen Systemwechsel. ... Eine Rückkehr zum parlamentarischen System. Wenn die Nationale Allianz die parlamentarische Mehrheit erreicht, um die Verfassung zu ändern, ist das der Abschied vom Präsidialsystem. ... Wenn nicht, dann wird die Debatte über die Rückkehr zum alten System beendet sein.“
Frauen kehren Erdoğan den Rücken
Erdoğans Wählerschaft bestand einst zu 55 Prozent aus Frauen, erinnert Yetkin Report:
„Für die Wählerinnen der AKP war Erdoğan nicht nur ein politischer Führer, sondern wie ein charismatischer Popstar. Dieser Trend begann sich erstmals bei den Wahlen 2018 zu ändern. ... Der wichtigste Faktor war, dass Frauen, die dank Erdoğans AKP-Regierung ins Bildungs- und Geschäftsleben eingestiegen waren, nun erkannten, dass das Kopftuch nicht ihr einziges Problem war. Erdoğans Klagen über späte Ehen und sein ständiges Gerede, Frauen hätten die Verantwortung, drei Kinder zu bekommen und alte Menschen zu betreuen, entsprachen nicht den Realitäten des modernen Stadtlebens. ... Erdoğans neue Verbündeten akzeptieren nicht, dass Frauen Männern gleichgestellt sind. Erdoğan konfrontiert die Frauen, die ihn einst an die Macht brachten, mit der Hoffnung, dass diese Verbündeten ihn wieder an die Macht bringen.“
Oppositions-Bündnis zu disparat
Man sollte keine großen Hoffnungen in das Bündnis der Nation setzen, warnt der Kurier:
„An der Schlagkraft der vereinten Opposition muss man tatsächlich zweifeln. Und zwar nicht nur deswegen, weil deren Anführer, Kemal Kiliçdaroğlu, schon 74 Jahre alt und wenig charismatisch ist, sondern weil die Allianz heterogener nicht sein könnte: Da tummeln sich Sozialdemokraten, stramme Nationalisten und sogar Islamisten. Das einzig Verbindende ist der Slogan: 'Erdoğan muss weg!' ... Aber als einziger Kitt taugt es wenig – wie man bei ähnlichen Experimenten in Ungarn oder Israel sehen konnte.“
Abwahl bringt eigene Schwierigkeiten
Dass der aktuelle Präsident bei einer Niederlage die Macht abgeben würde, ist mehr als fraglich, meint Ihor Semiwolos, Direktor des Think Tanks Association of Middle East Studies, in NV:
„Was wird mit Erdoğan passieren, wenn er verliert? Dies ist eine Frage, auf die es in der türkischen Gesellschaft wahrscheinlich keine Antwort gibt. Es steht viel auf dem Spiel, denn wie wir aus der türkischen Vergangenheit wissen, werden viele Menschen Untersuchungen zu einer Reihe von Dingen fordern, wie zum Beispiel die Repressionen nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei. ... Daher dürfte ein Machtverlust für Erdoğan mit einer Reihe von Unannehmlichkeiten verbunden sein. Und genau deswegen gehen viele davon aus, dass er die Macht nicht einfach aufgeben wird.“
Erdoğan ist der geheime Favorit Europas
Yetkin Report ist überzeugt:
„Wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, steht der Westen, insbesondere die EU, vor einer ernsten Prüfung. ... Es ist leicht, den islamistischen und nun nationalistischen Erdoğan 'auszugrenzen'. ... Die EU-Hauptstädte sind besorgt, dass die Syrer, wenn Kılıçdaroğlu sie zurückschickt, andere Wege nach Europa nehmen werden. Aber Erdoğan ist bereit, sie aus eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Türkei zu behalten. ... Eine Türkei, die sich dem Westen zuwendet, liegt nicht im Interesse der religiösen, rechten, konservativen und rassistischen Kreise im Westen, die die EU als christlichen Club sehen. In den Augen der meisten EU-Politiker muss Türkiye die Antithese bleiben. Deshalb wünschen sie sich insgeheim, dass Erdoğan gewinnt.“
Ideologische Unschärfe macht es Wählern schwer
Burhanettin Duran vom regierungsnahen Think Tank Seta glaubt in Daily Sabah,
„dass es für unentschlossene Wähler bei dieser Wahl schwieriger sein wird, sich für eine ideologische Zugehörigkeit zu entscheiden, als jemals zuvor in der jüngeren Vergangenheit der Türkei. ... Und zwar deshalb, weil die Polarisierung zwischen den beiden Hauptbündnissen im Gegensatz zum üblichen rechts versus links oder konservativ versus säkular durch den Anti-Erdoğanismus angeheizt wird. ... Kılıçdaroğlu hat alle ideologischen Hebel in Bewegung gesetzt, um Stimmen zu gewinnen, aber es ist ihm nicht gelungen, seiner Partei eine sinnvolle Identität zu geben.“