Türkei vor Wahlen: Naht das Ende der Ära Erdoğan?
In der Türkei stehen spätestens im Juni Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Präsident Erdoğan wird dabei von einem Sechs-Parteien-Bündnis herausgefordert, das die Macht des Präsidenten beschneiden will. Ein gemeinsamer Kandidat ist bislang nicht aufgestellt. Nun stehen Überlegungen zur Aufstellung eines eigenen Kandidaten der HDP und zur Verteilung von Befugnissen auf mehrere Personen nach einem Wahlsieg im Raum.
Keine Zeit für Kapriolen
Sözcü-Kolumnist Emin Çölaşan hat kein Verständnis für die Aufstellung eines eigenen Kandidaten der kurdennahen HDP-Partei:
„Bis zu der wichtigsten Wahl in der Geschichte der Republik sind es nur noch wenige Monate. Wenn in dieser Zeit die Launen, Komplexe, Gewinn- und Verlustrechnungen einiger Parteien an die Öffentlichkeit kommen, wird der Preis dafür uns alle erdrücken und begraben. Die geschätzten Parteivorsitzenden, die für ihre eigenen kleinen Interessen am Tisch quertreiben, werden damit einzig und allein Recep Tayyip und seiner Partei in die Hände spielen. ... Ich glaube, dass diesbezüglich eine der größten Aufgaben der HDP zufällt. Jetzt ist nicht die Zeit, um launisch zu sein.“
Regierung mit sechs Präsidenten ist utopisch
Geforderte Entscheidungsbefugnisse für mehrere Parteiführer des Oppositionsbündnisses sind weder praxistauglich noch fair, meint Kolumnistin Nagehan Alçı in Habertürk:
„Okay, die Türkei hat in letzter Zeit unter der übermäßigen Zentralisierung und Personalisierung der Macht gelitten, aber würde das von Herrn Davutoğlu beschriebene Modell nicht im Gegenteil dazu führen, dass das System blockiert ist und es sehr schwierig wird, Entscheidungen selbst in kleinsten Fragen zu treffen? Wäre es nicht eine sehr ungerechte Repräsentation, wenn sich die Vorsitzenden der stimmenmäßig sehr unterschiedlichen Parteien mit dem mit mindestens über 50 Prozent der Stimmen gewählten Präsidenten gleichsetzen?“
Phase der Unsicherheit möglich
Hippokrates Daskalakis, Generalleutnant im Ruhestand und Studiendirektor bei The Hellenic Institute for Strategic Studies, schreibt für die HuffPost Greece:
„2023 wird ein Jahr der Wahlen im östlichen Mittelmeerraum sein, in dem Griechenland, die Republik Zypern und die Türkei die Regierungen bestimmen, die nicht nur die gemeinsamen Probleme lösen, sondern auch die angespannten Beziehungen untereinander verbessern müssen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass die türkische Gegenseite in eine Phase der Unsicherheit eintreten kann, wenn das Wahlergebnis nicht eindeutig ist, und insbesondere, wenn der Wahlsieg des 'Sultans' nur knapp verfehlt wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir sogar Bilder von Konflikten und Zerfall sehen werden, die denen des Putsches vom Juli 2016 ähneln.“
Chance, das Vertrauen wiederherzustellen
Die Wähler sind inzwischen sogar der Wahlbehörde gegenüber skeptisch, meint Karar:
„Die derzeitige Regierung hat das Wahlgesetz bis hin zu den Wahlvorständen zu ihrem eigenen Vorteil geändert, ohne die Meinung der Opposition einzuholen. Bisher ist bei keiner Wahl die Unparteilichkeit der obersten Wahlbehörde in Frage gestellt worden. Es war eine Institution, die das Ansehen der Türkei unter den Demokratien der Welt erhöht hat. Doch nun wird ihrer Unparteilichkeit nicht mehr getraut. Das Fernsehen wurde weitgehend zum Propagandamittel der Regierung. ... Gegenüber so einer Regierung ist es für die Türkei eine Chance, dass die zersplitterte Opposition sich zu dem Sechser-Bündnis vereint hat. Es verfügt über ein wesentliches qualifizierteres Personal als die Regierung.“
Endlich Klarheit schaffen!
Journalist Hakan Aksay spricht das Oppositionsbündnis auf T24 direkt an und fordert Nägel mit Köpfen:
„Ein paar Monate vor den Wahlen scheinen Sie zufrieden zu sein mit den perfekten Aufwärmübungen, die Sie am Rand des Platzes machen, ohne tatsächlich an den Ball zu kommen. ... Warum wundern sich die Leute, warum können sie nicht voll vertrauen? Weil sie hilflos sind. Sie versuchen zu verstehen, was Sie tun und vorhaben. ... Bitte nominieren Sie endlich den Kandidaten und egal, wer es ist, beweisen Sie, dass Sie ein wirklich starkes Bündnis geschaffen haben, indem Sie dem nominierten Kandidaten andere starke Führungspersönlichkeiten zur Seite stellen. Stoppen Sie die Aufwärmübungen für die Wahlen und gehen Sie aufs Feld.“
Herausforderer leben gefährlich
Artı Gerçek findet es hingegen richtig, dass die Opposition sich mit einem Kandidaten zurückhält:
„Der in vielen Fragen zu Recht oder Unrecht kritisierte Sechsertisch hat die richtige politische Entscheidung getroffen, indem er seinen Kandidaten bisher nicht bekannt gegeben hat. Die Gründer der Nationalen Allianz wussten sehr gut, dass die Palastregierung von der Bekanntgabe des Oppositionskandidaten bis zu den Wahlen umgehend eine große Zermürbungs- und sogar Zerstörungskampagne aus selbst produzierten Lügen, Komplotten und Verschwörungen, inszeniert von den an sie gebundenen Medien, der Justiz und Sicherheitskräften starten würde. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass das Nicht-Aufstellen eines Oppositionskandidaten den vom Palast aufgestellten Spielplan völlig durcheinandergebracht hat.“
Unfaire Methoden gegen politische Gegner
Selahattin Demirtaş, der inhaftierte Ex-Co-Vorsitzende der kurdennahen HDP, erwartet auf T24 einen politischen Kampf mit harten Bandagen:
„Der Wahlkampf wird nicht zu gleichberechtigten Bedingungen stattfinden. Die Regierung wird alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel unverhältnismäßig und unfair einsetzen. Sie werden so schmutzige und beängstigende Methoden anwenden, wie wir sie uns kaum vorstellen können. ... Was auch immer die Regierung tut, egal welche List sie anwendet, das Volk hat seine Entscheidung getroffen. ... Es braucht kein Wunder, um die fast 70 Prozent der Wählerschaft, die Veränderungen wollen, in einen Sieg umzuwandeln.“
Das Bündnis kann die Wende schaffen
Die Oppositionsparteien haben reale Chancen, Erdoğan zu besiegen, meint Ukrajinska Prawda:
„Sie sind sich in mehreren Punkten einig. Erstens eint sie der Wunsch, Erdoğan von der Macht zu entfernen. Und zweitens der Wunsch nach einer Rückkehr zu einer parlamentarischen Republik, in der die Macht des Präsidenten nicht so zentralisiert und konsolidiert ist. Das ist das Entscheidende bei den nächsten Wahlen - es geht nicht nur darum, wer als Person, als Kandidat gewinnt, sondern auch darum, wie das politische System der Türkei nach 2023 aussehen wird. ... Die Türkei befindet sich in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage, und es sind die Wirtschafts- und Finanz-Schwierigkeiten, die die Stimmung der türkischen Wähler am meisten beeinflussen. “
Einig sind sie nur gegen einen
Das Oppositionsbündnis kann sich bei grundlegenden Themen nicht einigen, meint die regierungsnahe Tageszeitung Milliyet:
„Die Gegnerschaft zu Erdoğan hat die Differenzen des Sechsertisches anfangs übertüncht, doch als es darum ging, wie das Land regiert werden sollte, brach Chaos aus. Wenn der Sechsertisch die Wahlen gewinnt, aber keine Mehrheit erreichen kann, um sein Versprechen einer Verfassungsänderung hin zu einem 'gestärkten parlamentarischen System' einzulösen, dann wird wahrscheinlich die Hölle losbrechen. ... Das Problem ist, dass sie keine Regierungsalternative bieten, die den Menschen in der Türkei Hoffnung gibt und von der man sagen kann: 'Auch sie können das Land regieren'.“