Ukraine: Warten auf die große Gegenoffensive
Die Anzeichen für eine Großoffensive der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland verdichten sich. Laut Nato-Generalsekretär Stoltenberg sind 98 Prozent der zugesagten westlichen Waffen im Kriegsgebiet eingetroffen. Die Ukraine sei dadurch "in eine starke Position versetzt, besetztes Territorium zurückzuerobern". Kommentatoren analysieren, wann eine Gegenoffensive beginnen könnte und welche Chancen sie hätte.
Alles ist offen
Pravda wägt ab:
„Seit Beginn des Krieges befindet sich die Ukraine in einer wenig beneidenswerten Lage. Einerseits steht sie unter Zeitdruck und muss so schnell wie möglich handeln. Andererseits könnte das Scheitern des Angriffs auch zu völliger Erschöpfung und einem Patt führen. Erfolgsaussichten für die Ukraine können jedoch nicht ausgeschlossen werden. Mit ihrer Entschlossenheit und ihrem strategischen Scharfsinn, mit denen sie der russischen Kriegsmaschine bereits Schläge versetzt hat, überzeugt sie uns immer wieder, dass es sinnvoll ist, ihre Verteidigung der Freiheit zu unterstützen.“
Rückeroberung wäre ein Science-Fiction-Szenario
Der Wirtschaftsprofessor Jože P. Damijan zeigt sich auf seinem Blog skeptisch:
„Natürlich wäre eine so erfolgreiche Gegenoffensive wünschenswert. Das Problem jedoch ist, dass das an Science-Fiction grenzt. Die bisher bekannten Fakten sind wie folgt: Auf ukrainischer Seite soll es etwa 35.000 Soldaten geben, verstärkt durch etwas mehr als 100 westliche Kampfpanzer. Diesen stehen wohl mehr als 140.000 russische Soldaten entlang einer 950 Kilometer langen, befestigten Frontlinie gegenüber. Und bei einem Durchbruch würde die Ukrainer eine mehrere Kilometer lange tödliche Demarkationslinie aus Minenfeldern, Erdwällen und Panzerabwehrsystemen erwarten.“
Das kann noch dauern
Warum die Offensive noch nicht begonnen hat, ergründet Večernji list:
„Als einer der Gründe wird angeführt, dass noch nicht alle versprochenen westlichen Waffen angekommen sind, trotz Jens Stoltenbergs Aussage, 98 Prozent seien geliefert, darunter 230 Panzer, die als entscheidend für den ukrainischen Erfolg gelten. Zweitens wurden mindestens 16 neue Brigaden mit über 50.000 Kämpfern gegründet. Diese Einheiten brauchen Zeit zur Vorbereitung und Ausbildung an den neuen Waffen. Drittens haben die Ukrainer keine Erfahrungen mit Offensiven auf so breiter Front und mit der Koordination einer so großen Zahl von Einheiten. ... Auch hat der Regen im April viele Straßen unpassierbar gemacht für schwere Waffen, weshalb man warten muss, bis der Boden getrocknet ist.“
Drohnenangriffe dezimieren Russlands Arsenal
Politologe Nikolai Mitrochin erklärt auf Facebook ein erfolgreiches Element der ukrainischen Strategie:
„Jeden Tag schickt die ukrainische Armee Langstreckendrohnen (etwa 5 bis 7 Stück) über die Frontlinie, von denen die russische Luftabwehr 95 Prozent abschießt. Dies ist natürlich ein großer Erfolg für sie. Es sei denn, man bedenkt, dass für jede ukrainische Drohne zum Preis von 10.000 bis 20.000 Dollar eine Rakete zum Preis von 200.000 Dollar (oder mehr) verbraucht wird und dass von diesen Raketen in Russland etwa eine pro Tag produziert wird. Daraus entsteht die Frage, wie viele Raketen Russland aus 'Altbeständen' noch übrig hat. ... Die ukrainische Taktik geht in jedem Fall auf - egal ob diese Drohnen abgeschossen werden oder ihr Ziel erreichen.“
Der Dnipro war kein echtes Hindernis
Die Landung am anderen Dnipro-Ufer lässt auf weitere Erfolge der ukrainischen Truppen hoffen, meint Spotmedia:
„Sie zeigt, dass sie in der Lage sind, die russischen Streitkräfte zurückzudrängen, auch wenn sie durch ein natürliches, schwer zu überwindendes Hindernis geschützt waren. … Die russischen Generäle haben erkannt, dass die Halbinsel Krim verletzlich ist, sie haben Gräben ausgehoben und Panzersperren aus Beton angelegt, aber es ist schwierig, ein so großes Gebiet zu kontrollieren, wenn man nur die als verwundbar geltenden Gebiete befestigt. ... Für Russland mit seiner statischen Armee, der es an Moral und moderner Ausrüstung mangelt, scheint ein komplexer, in taktischen Schritten aufgebauter Angriffsplan schwer zu durchkreuzen.“
Kyjiw braucht echte Sicherheitsgarantien
Mit militärischen Mitteln allein ist Russland in der Ukraine nicht in die Schranken zu weisen, schreibt Verslo žinios:
„Die Unterstützer [der Ukraine] sollten nicht davon ausgehen, dass die kommende Schlacht die letzte sein wird. Das ist sie mit ziemlicher Sicherheit nicht. ... Der Westen muss darüber hinaus deutlich machen, dass er die Sicherheit der Ukraine auf Jahre hinaus gewährleisten wird, um Putin und seine Kumpanen von ihren räuberischen Ambitionen abzuschrecken. Der Ukraine sollten detaillierte Sicherheitsgarantien gegeben werden - und zwar nicht die 'theoretischen', zu denen das Budapester Memorandum [Atomwaffenverzicht der Ukraine 1994 für die Versicherung auch seitens Russlands, dass ihre Grenzen und Souveränität unverletzt bleiben] geworden ist und die Putin eklatant verletzt hat, sondern reale und praktikable Garantien.“
Ukrainer brauchen einen Erfolg
Eine Gegenoffensive wäre wichtig für die ukrainischen Truppen, meint Wprost:
„An der Front spürt man in Gesprächen mit ukrainischen Soldaten den Hunger nach Erfolg, denn seit der Rückeroberung von Cherson am 11. November 2022 hat sich auf ukrainischer Seite in der Kriegsführung nichts wirklich Spektakuläres ereignet. ... Und ein Erfolg in der Größenordnung der Befreiung von Charkiw oder Cherson ist bitter nötig, um die Moral zu stärken. Vor allem im Zusammenhang mit dem ausblutenden Bachmut. Die Festung wird ungeachtet vieler Spekulationen, dass sie 'jetzt sicher fallen wird', immer noch verteidigt - allerdings zu dem gewaltigen Preis des Lebens vieler ukrainischer Soldaten.“
Auf Dauer geht es nicht ohne Einigung
Die fehlende militärische Durchschlagskraft wird die Ukraine früher oder später zu Zugeständnissen zwingen, glaubt The Observer:
„Die Attraktivität eines dauerhaften Waffenstillstands liegt auf der Hand. Er würde das Gemetzel stoppen, eine atomare Eskalation zwischen Russland und der Nato verhindern, globale Wirtschafts-, Energie- und Lebensmittelkrisen mildern und eine Art Frieden bringen. ... Theoretisch könnten beide Seiten noch einen entscheidenden Sieg erringen. Aber ohne Einigung ist eine blutige, verlustreiche, mehrjährige Pattsituation viel wahrscheinlicher. Diese Aussicht gefällt niemandem, außer möglicherweise China und Waffenherstellern. ... Um ihren Schmerz und ihr Leid zu beenden, könnten die Ukrainer bald unter Druck geraten, eine äußerst bittere Pille zu schlucken.“
Ein weiterer eingefrorener Konflikt am Horizont
Auch Jornal i rechnet mit keinen großen Verschiebungen mehr:
„Der Wandel des Krieges in der Ukraine zu einem 'eingefrorenen Konflikt', wie es der 'Bürgerkrieg' im Donbass mehrere Jahre lang war, dient mehreren Interessen. Erstens können die USA und China weiterhin die Schwächung Russlands beobachten: Opfer, Ausrüstungsverluste, Rüstungsausgaben, sinkendes BIP, Ausfälle bei der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen, die Möglichkeit sozialer Protestbewegungen. Zweitens führt die Verringerung der Intensität des Konflikts aus Moskauer Sicht dazu, dass er nebst anderen eingefrorenen Konflikten (Georgien, Transnistrien) weiterhin die Ostgrenze der Nato destabilisiert, aber gleichzeitig für eine gewisse Stabilität an der russischen und belarusischen Grenze sorgt.“