Wie soll Europa den 9. Mai feiern?
Nicht nur in Moskau wird am 9. Mai an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. In der EU - und erstmals auch in der Ukraine - wird der Tag auch als Europatag für Frieden und Einheit gefeiert. Es ist der Jahrestag der Schuman-Erklärung, die als Geburtsstunde der EU gilt. Auch Kommentatoren treibt die Frage um, wie man diesen Tag begehen sollte angesichts der wichtigen Rolle der Roten Armee beim Sieg über Nazi-Deutschland.
Die ganze Geschichte in den Blick nehmen
Der Ukrainekrieg ist kein Argument, die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung von Hitler zu vergessen, meint der Tagesspiegel:
„Ein Geschichtsbild, das nur noch aktuelle russische Schuld sieht, wäre ähnlich unehrlich wie das von Moskau über Jahrzehnte oktroyierte Gedenken, in dem der Hitler-Stalin-Pakt nicht vorkam. ... Unterschlagen wurde die Mittäterschaft zu Kriegsbeginn. Unterschlagen wurde, dass die sowjetischen Hauptopfer des Krieges Ukrainer und Weißrussen waren – und ebenso der Anteil der nicht-russischen Soldaten am Sieg über Hitler. ... Die Redlichkeit verlangt es, die ganze Geschichte in den Blick zu nehmen. Nicht nur am 8. und 9. Mai. Aber für Deutsche ganz besonders an diesen beiden Tagen. Und am 1. September, an dem Deutsche den Weltkrieg auslösten.“
Kyjiw wendet sich auch im Gedenken von Russland ab
Dass die Ukraine am 9. Mai nicht mehr den Sieg über den Nationalsozialismus, sondern den Europatag feiert, ist für La Repubblica
„die jüngste in einer langen Reihe von Maßnahmen, mit denen Kyjiw alle gemeinsamen Wurzeln [mit Russland] abtrennt. Doch diese Wurzeln bleiben in einem Land, in dem fast jeder mindestens einen russischen Verwandten hat, ein unentwirrbares Geflecht. … Die dröhnende Rhetorik ist eine Nebenwirkung des Kriegsrechts und des Kriegszustands. Diese Entwicklung begann nach dem Maidan im Jahr 2014. Im Jahr 2016, zwei Jahre nach der Einnahme der Krim und der Eroberung der Hälfte des Donbass durch die Russen, erließ Kyjiw ein Gesetz namens 'Entkommunisierung', benannte 3.000 Städte und Dörfer um und baute mehr als 1.300 Denkmäler ab.“
Mit der Ukraine in eine freie Zukunft
Mit gemischten Gefühlen blickt Postimees auf den Europatag:
„Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Am 9. Mai 2023 gibt es in Europa keinen Frieden, und die EU bereitet als Friedensprojekt die Produktion einer Million Geschosse für die Ukraine vor. Die Bedeutung des Europatages hat sich also geändert, und angesichts des aktuellen Krieges gibt es keinen Weg zurück zum Friedensprojekt der Vergangenheit. ... Entscheidend ist, wie die Europäer in die Zukunft blicken, einschließlich einer in Europa integrierten Ukraine. Schließlich kämpfen die Ukrainer für die gleichen Werte, die am Europatag hervorgehoben werden: demokratische Freiheiten, Solidarität, gegenseitige Achtung und Respekt vor dem menschlichen Leben.“