G20-Gipfel: Erfolg oder Reinfall?
Der G20-Gipfel in Neu-Delhi ist mit einem mühsam errungenen Kompromiss beendet worden. Die Staats- und Regierungschefs betonten die territoriale Integrität von Staaten, ohne jedoch Russlands Krieg gegen die Ukraine explizit zu verurteilen. Mit dem Beitritt der Afrikanischen Union (AU) wurde dem globalen Süden mehr Gewicht verliehen. Kommentatoren debattieren, ob sich das Machtgefüge der Welt grundsätzlich ändert.
Die Welt wird multipolar
Dass die Abschlusserklärung des Gipfels Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht ausdrücklich verurteilt, beunruhigt Népszava:
„Es stellt sich mit Recht die Frage, warum die USA und die EU bereit waren, eine solch nichtssagende Erklärung zu unterzeichnen. Es liegt vor allem daran, dass Indien für Brüssel und erst recht für Washington außerordentlich wichtig geworden ist. ... Das G20-Treffen endete also nicht mit einem Sieg der demokratischen Welt, sondern zeigte erneut, dass sich die Welt in einem großen Wandel befindet. Die Schwellenländer melden sich immer lauter zu Wort. ... Die Welt wird multipolar und Washington verliert seine Hegemonie. Die Frage ist nur, ob die globale Demokratie damit langfristig verlieren wird.“
Frieden als Nebensache
Neu-Delhi hat nur fruchtlose Kompromisse hervorgebracht, schimpft Karar:
„Auf dem G20-Gipfel wurde nach intensiven Bemühungen eine Abschlusserklärung ausgearbeitet, die es allen recht macht, aber es wurde kein Wille zur Beendigung des Krieges geäußert. Tatsächlich hatte keiner der am Gipfel teilnehmenden Staats- und Regierungschefs ein solches Ziel. Die Welt ist nicht so beunruhigt, wie man meinen könnte, über die Fortsetzung eines verheerenden Krieges, in dem 500.000 Soldaten auf russischer und ukrainischer Seite getötet oder verwundet wurden. Die Abschlusserklärung, die das Ergebnis intensiver Verhandlungen war, war ein Kompromisstext, der die Erwartungen sowohl Russlands als auch des Westens erfüllte.“
Süden wird endlich aufgewertet
El País feiert den Abschlusstext:
„Das Abkommen beweist das politische Engagement für die Forderungen des globalen Südens. So sollen multilaterale Entwicklungsbanken gestärkt und Fälle von nicht tragfähiger Verschuldung behandelt werden. [Der Gipfel] hat auch grünes Licht für den Beitritt der Afrikanischen Union gegeben. ... Dennoch sind Vorsicht und Skepsis angebracht, wenn man bedenkt, wie weit die Erklärungen von der Realität entfernt sind. ... Aber es geht in die richtige Richtung, weil die Kluft zwischen Nord und Süd unbedingt verringert werden muss und weil der afrikanische Kontinent ein größeres internationales Mitspracherecht braucht. ... Ein Scheitern in Neu-Delhi wäre ein schwerer Schlag gewesen. In Zeiten der Polarisierung ist es keine Kleinigkeit, dass das vermieden wurde.“
Einigkeit wichtiger als Solidarität
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beobachtet eine Verschiebung:
„Der Westen war bereit, einen Preis zur Rettung der Gruppe zu bezahlen, und dieser Preis bestand darin, dass der russische Überfall in der Abschlusserklärung nicht direkt verurteilt wird. ... In der realen Welt haben die fein austarierten Formulierungen solcher Dokumente meist keine oder nur geringe Folgen. Das gilt auch für die westliche Unterstützung der Ukraine, die im Grundsatz (bisher) nicht infrage steht. Aber in Neu Delhi ist doch eine Prioritätenverschiebung sichtbar geworden. Die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern war Amerika und Europa wichtiger als eine weitere Solidaritätsgeste für Kiew.“
Abwesenheiten gaben Biden mehr Raum
Unter strategischen Gesichtspunkten sind die USA der Sieger des Gipfels, erklärt La Repubblica:
„Die Abwesenheit von Xi Jinping und Wladimir Putin sollte die Bedeutung der Gruppe herabsetzen. De facto aber hat ihre Abwesenheit ihre Rolle verringert und Biden mehr Raum gegeben. Er kann den Weg des multilateralen Aufbaus fortsetzen, der zwischen 1944 und 1945 auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs begonnen wurde, mit den Vereinten Nationen, dem IWF, der Weltbank und allem, was darauf folgte. Seit einigen Jahren haben diese Konstruktion und ihr Vorreiter gelitten. Amerika schien im Vergleich zu China auf dem absteigenden Ast zu sein. ... Zusammen mit den wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Monate scheint der G20 das Gegenteil zu beweisen.“