Welche Hilfe brauchen Bergkarabach und Armenien?
Nach der militärischen Einnahme Bergkarabachs durch Aserbaidschan werden die Strukturen der international nicht anerkannten Republik Arzach aufgelöst. Die Behörden erklärten das Ende "aller staatlichen Institutionen und Organisationen" bis zum 1. Januar 2024. Die große Mehrheit der rund 120.000 ethnischen Armenier ist inzwischen aus der Region geflüchtet.
Aserbaidschan muss UN und OSZE ins Land bitten
Internationale Friedenstruppen müssen die Sicherheit für ethnische Armenier in Bergkarabach garantieren, fordert Historiker Andrej Subow auf Facebook:
„Wenn die Flüchtlinge sich sicher sein können, dass man sie nicht beraubt oder tötet und dass ihr Eigentum, sofern es legal erworben (und nicht zwischen 1989 und 1993 Aserbaidschanern enteignet) wurde, an sie zurückgegeben wird, dann werden viele zurückkehren wollen. ... Um ihnen die Angst zu nehmen, reichen Zusicherungen nicht aus, die armenische Bevölkerung braucht realen Schutz. Der aserbaidschanischen Polizei werden Armenier noch über lange Zeit misstrauen. Deshalb sollte Aserbaidschan selbst UN und OSZE bitten, Überwachungskommissionen und Friedenstruppen in die Region zu schicken.“
EU sollte aus Fehlern lernen und schnell handeln
Entschlossenheit der EU hält Nathalie Loiseau, Europaabgeordnete von Renew Europe, in La Croix für nötig:
„Ohne uns ist das demokratische und souveräne Armenien in Gefahr. Es verlangt nicht, dass wir für Armenien in den Krieg ziehen, sondern nur, dass wir ihm helfen, in Frieden zu bleiben, indem wir ihm die Unterstützung und die Garantien geben, die es braucht. Europa hat die Mittel dazu. ... Die Welt hat aus Faulheit geglaubt, dass Bergkarabach ein eingefrorener Konflikt bleiben würde, doch heute ist es verbrannte Erde. Wenn wir diese Katastrophe schon nicht verhindern konnten, sollten wir wenigstens in der Lage sein, Armenien vor den Bedrohungen zu retten, die über ihm schweben. Wir müssen aus unseren Fehlern lernen und schnell und entschlossen handeln.“
Traurige Gleichgültigkeit
Den von der EU eingeplanten Betrag von fünf Millionen Euro an humanitärer Hilfe kritisiert die taz als viel zu wenig:
„Nachdem die EU Aserbaidschans Blockade des Latschin-Korridors – der einzigen Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach – in den vergangenen Monaten fast kommentarlos hinnahm und bei der Fossildiktatur – obwohl alle Zeichen auf Eskalation standen – munter weiterhin Gas einkaufte, zeigt sie damit erneut: Die Situation der Armenier ist der EU gleichgültig. Und zwar nicht nur die politische, sondern traurigerweise auch die humanitäre.“
Ersatz für gescheiterte Uno finden
Neue internationale Institutionen fordert The Daily Telegraph:
„Berg-Karabach wird als weiterer Beleg dafür in Erinnerung bleiben, dass die Vereinten Nationen nicht mehr ihren Zweck erfüllen. Die Uno weist sich in ihrer Charta die Aufgabe zu, künftige Generationen 'vor der Geißel des Krieges zu bewahren'. Dennoch kann die Organisation Russland nicht ausschließen - selbst wenn Wladimir Putin Atomwaffen einsetzt -, weil Russland ein Veto einlegen würde. Und auch Aserbaidschan kann nicht ausgeschlossen werden, weil Russland die notwendige Empfehlung des Sicherheitsrats verhindern würde. Weil der Sicherheitsrat seinen Zweck nicht erfüllt, besteht der einzige Ausweg darin, die Vereinten Nationen zu ersetzen.“
Opfer der Realpolitik
Warum auch Armenien sich nicht für Bergkarabach ins Zeug gelegt hat, analysiert Avvenire:
„Premierminister Paschinjan nimmt alle Flüchtlinge auf, keine geringe Anstrengung für ein Land mit drei Millionen Einwohnern, das nicht gerade vor Reichtum strotzt. ... Aber er hat keinen Finger gerührt, um den Aserbaidschanern entgegenzutreten, wofür er zu Hause scharf kritisiert wird. Es scheint klar zu sein, dass die Auflösung der [selbsterklärten] unabhängigen Republik für ihn, für seine Regierung und für einen großen Teil der Armenier auch die Auflösung eines Schreckgespenstes ist, nämlich eines Krieges mit Aserbaidschan, der im Handumdrehen zu einem regionalen Konflikt hätte werden können und ein sehr hohes Risiko für sein Land darstellt. ... Kurz gesagt: Lieber Bergkarabach verlieren als alles verlieren. Auch das ist Realpolitik.“
Die Flucht der Armenier ist für immer
Oppositionspolitiker Lew Schlosberg hält in einem von Echo übernommenen Telegram-Post nun humanitäre Fragen für wichtiger als politische:
„Die Geschichte Berg-Karabachs, das nach einem Referendum im Januar 1992 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, ist rechtlich abgeschlossen. ... Die Kernfrage ist jetzt nicht die Zugehörigkeit des Gebiets, sondern die Frage der humanitären Folgen der Ereignisse. ... Mehr als die Hälfte der Einwohner - über 65.000 von 120.000 Menschen - haben das Gebiet von Karabach überstürzt verlassen. Es kommt vor, dass Särge von Verwandten ausgegraben und deren Gebeine überführt werden. Die Menschen glauben nicht an eine Existenzgarantie in Berg-Karabach und verlassen es für immer. “
Kein Vertrauen mehr
Europa muss Deals mit Diktatoren und Autokraten grundsätzlich hinterfragen, meint Der Nordschleswiger:
„Die Macht des Stärkeren setzt sich durch. An welches Szenario erinnert das? Genau, an 2014, als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, indem er die Krim besetzte. Es gab damals viele Stimmen, die meinten, 'Ach, das müssen wir dem Putin zugestehen'. ... Wohin uns diese Haltung gebracht hat, das zeigt sich derzeit in den Schützengräben und Minenfeldern der Ukraine. ... Europa muss sich fragen, was uns unsere Demokratie wert ist. Sind wir angewiesen auf Deals mit den Mördern und Diktatoren dieser Welt? Dann sollen wir uns nicht wundern, wenn diese Welt unsere wohlfeilen moralischen Vorhaltungen nur mit Verachtung aufnimmt.“
Zu müde für die Konflikte anderer
Dilema Veche fragt sich, warum es nicht mehr Entschlossenheit gegen das Vorgehen Aserbaidschans gibt:
„Die einfachen Leute, Armenier und Aserbaidschaner, haben ihre Vermögen, Familien, ihr Leben im Namen unerreichbarer Ideale und unverantwortlicher Menschen verloren. Es gibt Armenier, die sich fragen, ob Aserbaidschan, durch die jüngsten Erfolge ermutigt, nicht noch mehr fordern wird. ... Es gibt in der Tat keine Garantie, dass dies nicht der Fall sein wird. Doch warum geht der Westen nicht entschlossener dagegen vor? Warum gibt er sich mit einigen Erklärungen des Typs 'aufmerksam und besorgt zu sein' zufrieden? Warum schaut Russland zu, ohne etwas zu unternehmen? Die Antworten sind vielfältig und nuanciert, aber ebenso zutreffend ist die Erklärung, dass wir alle der Probleme anderer müde sind.“