Krieg in Nahost: Verschiebt Israel die Bodenoffensive?
Die seit rund zwei Wochen vorbereitete und mehrfach angekündigte groß angelegte Bodenoffensive Israels im Gazastreifen verzögert sich weiter. Frankreichs Präsident Macron schlug nun vor, die vor knapp zehn Jahren gegründete internationale Militärkoalition gegen den IS auch gegen die Hamas kämpfen zu lassen. Wie komplex die Entscheidung für Israel ist, zeigt ein Blick in die Kommentarspalten der europäischen Presse.
Weitsichtig und international koordiniert handeln
Le Monde sieht im Vorschlag des französischen Präsidenten, eine internationale Koalition gegen die Hamas zu schmieden, zumindest einen interessanten Ansatz:
„Auf den ersten Blick erscheint der Vorschlag eher unrealistisch, aber er ist dennoch ein Versuch, die Gaza-Invasion und ihre unberechenbaren Folgen abzuwenden. Die US-Experten sind besonders besorgt darüber, dass die israelische Regierung keine Strategie für den 'Tag danach' hat. Angenommen die Operation erreicht ihr Ziel, was soll dann danach mit Gaza geschehen? Wer wird das Gebiet und seine gebeutelte Bevölkerung verwalten? Was genau bedeutet es, 'die Hamas zu eliminieren'? Wie kann man verhindern, dass die Bewegung, die seit fast vierzig Jahren in der palästinensischen Bevölkerung verankert ist, wieder aus der Asche aufersteht?“
Verhandlungen zurzeit inakzeptabel
Hinter dem Scheideweg erwarten Israel große Gefahren, meint Le Figaro:
„Wenn der israelische Premier sich nicht auf die von Emmanuel Macron vorgeschlagene 'Koalition' einlässt, wird er eine Entscheidung treffen müssen. Auf der einen Seite steht das Risiko, sich möglicherweise in der Gaza-Falle zu verfangen und einen regionalen Flächenbrand auszulösen. ... Auf der anderen Seite die Aussicht, den mit Blut beschmierten und hinter Reihen von Geiseln verschanzten Terroristen einen 'Sieg' zu verschaffen. ... Selbst wenn sich die 'Ausrottung' der islamistischen Bewegung als militärisch unmöglich erweist, scheint die Option, mit den Mördern zu verhandeln, an diesem Punkt politisch inakzeptabel.“
Schwieriger Test für die europäische Einheit
Die Sprengkraft für Europa betont Ukrajinska Prawda:
„Es ist eindeutig, dass die israelisch-palästinensische Frage die europäischen Regierungen gespalten hat. Zutreffend bemerkte die deutsche Außenministerin Baerbock kürzlich, die Hamas wolle einen 'Keil des Hasses' in die internationale Gemeinschaft treiben. Das gewinnt noch an Bedeutung, wenn die Spannungen mit dem Beginn der israelischen Bodenoperation im Gazastreifen (die zugegebenermaßen zahlreiche zivile Opfer fordern wird) noch zunehmen werden. Die EU muss sich darauf einstellen, dass dieser Krieg ein schwieriger Test für die europäische Einheit sein wird.“
Hamas entmachten und Weg für Frieden öffnen
Ohne Terrorgruppen, die Israel das Existenzrecht absprechen, wären auch die Perspektiven für die Palästinenser besser, meint Duma:
„Die Hindernisse für das palästinensische Anliegen eines unabhängigen Staates liegen sowohl in Israel als auch in der Hamas. ... Israels Gegner können viele Vergehen gegen die Palästinensern aufzählen. Aber Israel will die Palästinenser nicht ausrotten, es lehnt Verhandlungen mit ihnen nicht ab, es erkennt sogar die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland an. ... Doch die Hamas macht Aussichten auf einen palästinensischen Staat zunichte. Verschwänden die Hamas und andere derartige Gruppierungen, wäre Israels wichtigster Trumpf ausgestochen. Die Palästinenser könnten den Weg öffnen für ihren großen Traum: den eigenen Staat in Westjordanland und Gazastreifen.“
Ein großes Dilemma verzögert die Entscheidung
Der Direktor des Zentrums für Sicherheit und strategische Forschung an der Nationalen Verteidigungsakademie, Toms Rostoks, kommentiert bei Delfi:
„Die israelischen Streitkräfte müssen versuchen, einen goldenen Mittelweg zu finden, um einerseits die Infrastruktur der Hamas zu zerstören und andererseits nicht so viele Opfer der Zivilbevölkerung und auch der israelischen Armee herbeizuführen. Das Problem sind die von Hamas errichteten Tunnel, und theoretisch gäbe es mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen, aber höchstwahrscheinlich werden dort Geiseln festgehalten. ... Israel steht vor einem großen Dilemma, was zu tun ist, was die Bodenoffensive im Gazastreifen verzögert hat.“
Protest im eigenen Land könnte wieder aufflammen
Die Stimmung der eigenen Bevölkerung könnte Netanjahu weiter bremsen, glaubt The Economist:
„Der Druck, den die Familien der Geiseln ausüben, hat die Regierung bereits gezwungen, ihre Pläne zu ändern. ... Die Hoffnung auf eine Einigung mit der Hamas über die Freilassung zumindest einiger Geiseln ist ein Grund für die Verzögerung der israelischen Invasion im Gazastreifen. ... Der Schmerz der Familien der Geiseln nährt auch die allgemeinere Wut vieler Israelis über die ihrer Meinung nach zu langsamen und unzureichenden Hilfsmaßnahmen für die von der Hamas verwüsteten Gemeinden und die Tausenden, die gezwungen waren, ihre Häuser zu verlassen. Seit dem Angriff wurden alle Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu eingestellt. Das mag nicht von Dauer sein.“
Mit klarem Kopf reagieren
Die Reaktion der USA auf 9/11 sollte Israel eine Warnung sein, empfiehlt der Spiegel:
„Die Vereinigten Staaten hatten nach der Attacke das Vertrauen und die Sympathie großer Teile der Welt, aber sie verspielten beides, weil der Krieg im Irak nicht Demokratie, sondern Chaos säte; und weil die USA im Kampf gegen den Terror die eigenen Werte über Bord warfen. ... [W]ie Israel diesen Krieg führt, wird nicht nur darüber entscheiden, wie das Land gesehen wird – sondern auch, ob sich eine Chance auf einen dauerhaften Frieden danach eröffnet. ... Mit anderen Worten: Israel müsste – anders als die USA – mit klarem Kopf auf sein 9/11 reagieren. Es müsste das heiße Verlangen nach Rache gegen einen kühlen Plan eintauschen.“
Folgen einkalkulieren
Der ukrainische Ex-Außenminister Pawlo Klimkin sieht in NV Probleme, auf die Israel im Falle einer Bodenoffensive vorbereitet sein sollte:
„Wenn diese Operation beginnt und einige der Geiseln hingerichtet werden, und noch dazu live im Fernsehen (wir leben in einer Medienwelt), wird das vielen Menschen das Herz brechen und das Hirn zerreißen. ... Und es gibt auch eine strategische Frage: Israel kann in Gaza einmarschieren. Es hat die Möglichkeit, dies zu tun. Die Frage ist, wie man wieder herauskommt. Israel war bereits vor 2005 in Gaza. Und hat sich dann zurückgezogen. Ja und? Danach hat die Hamas die Wahlen gewonnen.“
Fehler der Hamas provozieren
Der israelische Journalist Igor Litwak erklärt auf Echo, warum die Verzögerung der Bodenoffensive eine Taktik sein könnte:
„Ich bin mir keineswegs sicher, dass Israel alsbald einen Bodenkrieg beginnt. Dass es ihn beginnt, da bin ich mir sicher. Aber nicht hinsichtlich 'alsbald'. ... Das Warten auf einen Einmarsch ist für die Seite, in deren Gebiet eingedrungen wird, viel unangenehmer, denn dort ist man permanent nervös, da man erwartet, dass es jeden Moment losgeht. Und wenn Leute nervös sind, machen sie Fehler. ... Und der allerwichtigste Vorteil der angreifenden Seite ist: zu wissen, wann es losgeht.“