Erdoğan und Scholz: Zur Kooperation gezwungen?
Der türkische Präsident Erdoğan ist am Freitag in Berlin von Bundespräsident Steinmeier und Kanzler Scholz empfangen worden. In Bezug auf den Krieg in Nahost vertraten sie gegensätzliche Perspektiven. Erdoğan kritisierte das Vorgehen des israelischen Militärs und forderte eine Waffenruhe, Scholz betonte das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels. Europas Presse schaut darauf, was die beiden aneinander bindet.
Man will eben etwas voneinander
Die Stimmung ist besser als beim letzten Besuch vor fünf Jahren, kommentiert Gazeta Wyborcza:
„Damals waren die politischen Spannungen schon vor Erdoğans Ankunft in Berlin spürbar, und viele deutsche Politiker boykottierten das Staatsbankett mit ihm. Diesmal fand der Besuch Erdoğans in einer ruhigeren Atmosphäre statt. Das liegt an konkreten Themen, die anstehen. Deutschland ist daran interessiert, dass die Türkei das mit der EU geschlossene Abkommen zur Eindämmung des Migrantenstroms nach Europa fortsetzt. Im Gegenzug hat die türkische Seite in Berlin den Wunsch nach einer Lockerung der Visaregelung für ihre Bürger geäußert. Erdoğan forderte Deutschland außerdem auf, den Verkauf von 40 Eurofighter-Kampfflugzeugen an Ankara freizugeben.“
Wirtschaft wiegt mehr als politische Differenzen
Evrensel sieht auf beiden Seiten handfeste Gründe dafür, die politischen Turbulenzen nicht hochkochen zu lassen:
„Das Handelsvolumen der beiden Länder beläuft sich auf fast 50 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsminister, die sich letzten Monat trafen, bekundeten ihre Entschlossenheit, das Handelsvolumen zu erhöhen und unterzeichneten neue Abkommen. Während das deutsche Kapital die Türkei für wirtschaftliche Investitionen, Flüchtlinge und Strategien im Nahen Osten braucht, braucht das türkische Kapital Deutschland für Geld aus Europa und Fortschritte bei den EU-Verhandlungen. Aus diesen Gründen wird man bei den Verhandlungen sehr sensibel vorgehen, um die wirtschaftlichen und politischen Interessen nicht zu gefährden.“
Wortreiches Vollversagen
Vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts hat es Bundeskanzler Scholz nicht geschafft, Erdoğans Tönen Paroli zu bieten, ärgert sich die Neue Zürcher Zeitung:
„Das schmerzhafte Aber, das für zähneknirschende Höflichkeit sprach, lässt sich in zwei Worte fassen: Nato und Flüchtlinge. Die Türkei ist ein unentbehrlicher Partner im westlichen Militärbündnis. ... Das EU-Türkei-Abkommen von 2016 verhindert, dass sich noch mehr Menschen auf den Weg nach Deutschland machen, wo irreguläre Migration schon jetzt als politisches Hauptproblem empfunden wird. Es führte also kein Weg daran vorbei, Erdoğan zu empfangen. Dieser spielte sich dann auf deutschem Boden als Führer der islamischen Welt auf. Und damit wurde die 'deutsche Staatsräson' an diesem Abend Opfer eines wortreichen Vollversagens von Scholz.“
Besser auf türkische Zivilgesellschaft hören
Deutschland sollte seine Türkei-Politik grundsätzlich überdenken, fordert Der Tagesspiegel:
„Der türkische Präsident führt Deutschland vor, mit Vorsatz. Er beleidigt den Bundespräsidenten und 'den anderen', den Kanzler. Niemand kann nach Erdoğans wiederholten islamistischen Äußerungen ernstlich davon ausgehen, er wäre durch eine EU-Mitgliedschaft zu einem Demokraten geworden. Die Westbindung durch die Nato-Mitgliedschaft über Jahre hat es auch nicht vermocht, ihn in der Hinsicht zu beeinflussen oder gar zu läutern. ... Aber anstatt auf die vorhandene demokratische türkische Zivilgesellschaft zu hören, die einen Kurswechsel anmahnt, werden Erdoğans Ungeheuerlichkeiten geduldet. Weil er für Flüchtlingsdeals zu wichtig ist? Das ist als Begründung auf Dauer armselig opportunistisch.“