Ukraine: Machtkampf zwischen Präsident und Armeechef?
Medienberichten zufolge hat Wolodymyr Selenskyj versucht, Walerij Saluschnyj als Oberbefehlshaber loszuwerden. Mehrere Zeitungen schrieben, der ukrainische Präsident habe dem General den Posten des Verteidigungsministers angeboten, den dieser jedoch abgelehnt habe. Verteidigungsministerium und Präsidialamt dementierten. Saluschnyj hatte im November vor einer Pattsituation an der Front gewarnt. Die Presse beleuchtet Hintergründe.
Unseriöses Vorgehen
Radio Kommersant FM konstatiert eine offensichtliche Schwächung von Präsident Selenskyj:
„Was in der Ukraine geschieht, ist eine umfassende politische Krise – und sei es nur, weil die Entscheidung, einen Befehlshaber zu entlassen, durchgezogen werden sollte, anstatt auf halbem Wege anzuhalten und zu versuchen, die eigene Position über die Medien zu erklären: 'Wir haben ihn gebeten zu gehen, aber er hat sich geweigert und es gab auch niemanden, der ihn ersetzen wollte.' So agieren seriöse Politiker nicht. Erst recht nicht jetzt, wenn sich das weitere Schicksal des Landes entscheidet. Die Politiker im Westen setzen mühsam große Hilfspakete für Kyjiw durch, zum Nachteil ihrer eigenen Interessen – und bekommen im Gegenzug so etwas.“
Schwierige Ausgangslage für einen Neuen
Für einen Nachfolger von Saluschnyj würde es nicht einfach, schreibt der Publizist Witalij Portnykow in Obosrewatel:
„Man muss sich im Klaren sein, dass das Vertrauen in Walerij Saluschnyj nicht verschwinden wird. ... Jeder andere Befehlshaber würde im Vergleich zu Saluschnyj wahrgenommen. Selbst wenn der Nachfolger in den nächsten Phasen dieses schwierigen Krieges erfolgreich wäre, würden viele sagen: 'Wäre Saluschnyj Chef der Streitkräfte, gäbe es viel mehr Erfolge und sie wären größer.' Und sollte die ukrainische Armee Niederlagen erleiden oder die politische Führung Kompromisse mit Russland eingehen, dann würden alle sagen: 'Wäre Saluschnyj Chef der Streitkräfte, gäbe es keine derartigen Niederlagen und Kompromisse.'“
Eine Schande
Den Oberkommandeur mitten im Krieg wegen eigener politischer Ambitionen abzusetzen zu versuchen, ist mehr als unnötig, findet Telegram:
„Selenskyj hat schon mehrere Verantwortliche an der Spitze ausgewechselt und daran war nichts problematisch. Im Gegenteil, mitten im Krieg tauschte er den populären Verteidigungsminister aus und tat gut daran, denn damit unterband er zumindest einen Teil der Korruption. ... Aber die Ablösung von Saluschnyj ist nicht von noblen Interessen geleitet, sondern von den eigenen politischen Kalkulationen des Präsidenten. Und diese Schwächung der Einheit aller Kräfte der Landesverteidigung ist unnötig, unzulässig und eine Schande.“
Entlassung wäre fahrlässig
Für die Welt kommt die Debatte zur Unzeit:
„Saluschnyj wird von den ukrainischen Soldaten, die ihr Leben für die Verteidigung ihres Landes einsetzen, geschätzt. Zwar ist der ukrainischen Armee unter Saluschnyjs Führung die Gegenoffensive nicht gelungen, doch er gilt als brillanter Stratege. Die erfolgreichen Rückeroberungen von Charkiw [Teile des Verwaltungsgebiets] und Cherson sowie die Verteidigung Kiews hat er geführt. Ihn in einer Zeit zu feuern, in der Russland das Momentum auf dem Schlachtfeld hat, wäre fahrlässig.“
Verbündete haben Saluschnyj gerettet
Erheblichen Druck aus dem Westen sieht Večernji list am Werk:
„Der ukrainische Präsident betrachtet Saluschnyj ohne Rücksicht auf dessen Ansehen in Öffentlichkeit, der Armee und seine Kriegserfolge als Ärgernis, da er eine Reihe von Freunden auf wichtigen Positionen im Westen gewonnen hat. ... Das scheint ihm nun geholfen zu haben. ... The Times berichtete, dass Saluschnyj nach dem Treffen mit Selenskyj in sein Büro kam und seinen Angestellten sagte, er würde packen. Doch wie die gleiche Quelle schreibt, gab es sehr schnell Druck auf Selenskyj, seine Entscheidung zu ändern, vor allem nachdem Großbritannien und die USA Besorgnis geäußert hatten. ... Die westlichen Alliierten unterstützen Saluschnyj offenbar, da sie nicht wollen, dass Selenskyj alleiniger Machthaber ist.“
Nur eine Frage der Zeit
Eine Abberufung Saluschnyjs ist absehbar, schreibt Politologe Wolodymyr Fessenko in NV:
„Am 29. Januar hat möglicherweise eine misslungene Probe seines Rücktritts stattgefunden. Einigen Quellen zufolge wurde ihm 'etwas anderes' angeboten, er lehnte aber ab. Mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit war es jedoch nicht der letzte Versuch [der Entlassung]. Vielleicht geschieht das, wenn ein 'Nachfolger' gefunden ist. ... Saluschnyjs Rücktritt ist nur eine Frage der Zeit und der Umstände. Zu den Umständen gehören die Situation an der Front, die wohl nicht besser wird, Saluschnyjs Aktivitäten in den sozialen Medien und vor allem die politischen Aktivitäten und die 'Gesprächigkeit' seiner Umgebung.“
Rekruten im Zentrum des Streits
Zum Stein des Anstoßes ist die Mobilmachung geworden, meint Politologe Olexander Kotschetkow in Censor.net:
„Zwischen Saluschnyj und Selenskyj gibt es einen ernsthaften Konflikt in der Vorstellung darüber, wie der Krieg weiter geführt werden soll. ... Der Oberbefehlshaber braucht so schnell wie möglich 300.000 bis 500.000 kampfbereite Rekruten. ... Dabei ist Saluschnyj überzeugt, dass die Armee Rekruten ausbilden soll, doch es wäre die Aufgabe der politischen Führung, sie für die Armee zu gewinnen. ... Der Präsident ist potenziell bereit, sein öffentliches Ansehen um der Mobilisierung willen zu opfern, aber er verlangt vom Oberbefehlshaber Garantien, dass die schwierige Mobilmachung zu einem Durchbruch im Verlauf der Kampfhandlungen führen wird. ... Saluschnyj kann solche Garantien nicht geben.“
Populärer Konkurrent
Saluschnyj kann Selenskyj gefährlich werden, kommentiert Rzeczpospolita:
„Niemand zweifelt mehr daran, dass der Präsident und seine Administration versucht haben, den General loszuwerden. Um die Öffentlichkeit nicht zu verärgern – Saluschnyj ist sehr populär – wollten sie ihn zwingen, selbst zurückzutreten. Und damit war er offensichtlich nicht einverstanden. ... Saluschnyj hat bisher keine politischen Ambitionen erkennen lassen, die das derzeitige Machtlager gefährden könnten. Andererseits hätte die 'Bankowa' (Name der Straße, in der die Präsidialverwaltung sitzt) ein großes Problem gehabt, wenn er welche gezeigt hätte. Der General ist nicht nur in der Öffentlichkeit beliebt, sondern genießt auch die Unterstützung der Armee und dort wiederum verliert Präsident Selenskyj an Popularität.“