Frankreich: Le-Pen-Partei auf dem Durchmarsch?
Nach dem fulminanten EU-Wahlsieg des rechtsnationalen Rassemblement National (RN) ist Frankreich in Aufruhr. Präsident Macron löste noch am Sonntag die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli an. Und am Mittwoch vermeldeten die konservativen LR den Ausschluss ihres bisherigen Vorsitzenden Eric Ciotti, nachdem dieser angekündigt hatte, mit dem RN zusammenarbeiten zu wollen.
Neuwahl-Kalkül ist riskant
Macron hofft, dass das nationale Wahlrecht den RN ausbremst, erläutert Echo24:
„Während für Straßburg nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird und die Franzosen diese Wahlen oft zum Protest nutzen, wird für Paris durch Mehrheitswahl und in zwei Wahlgängen gewählt. In der Vergangenheit war das eine unüberwindbare Barriere für den Rassemblement National. In der zweiten Runde schlossen sich die Anti-Le Pen-Kräfte jeweils zusammen und stimmten für jeden, der nicht für RN kandidierte. Macron rechnet offensichtlich damit, dass dieser Effekt auch jetzt noch funktioniert. Trotzdem ist es ein großes Risiko. Seit mehreren Jahren arbeitet Le Pen sorgfältig daran, der Partei den extremen Anstrich zu nehmen. Zuletzt sorgte sie beispielsweise dafür, dass die AfD aus der gemeinsamen Europa-Fraktion ausgeschlossen wurde.“
Macron stellt dem Land die richtige Frage
In La Repubblica applaudiert der Philosoph Bernard-Henri Lévy der Ausrufung von Neuwahlen:
„Macron hat Recht. ... Angesichts dieses Durchmarschs gab es zwei mögliche Haltungen: Entweder eine Vogel-Strauß-Politik. ... Oder sich der Situation offen zu stellen. Die Auflösung des Parlaments also als Frage an das zweifelnde, orientierungslose Frankreich: Wollt ihr wirklich, was ihr wollt? Wollt ihr wirklich diese unfähigen, unverantwortlichen nützlichen Idioten Russlands, diese Demagogen, diese einstigen militanten Faschisten, diese Fremdenfeinde, diese Partei, die behauptet, sie habe sich in der existenziellen Frage des Antisemitismus geändert, so wie ihr eure Schuhe wechselt? Habt ihr wirklich die Wahlkabinen der Republik betreten, um zu sagen: Ich will eine illiberale, reaktionäre, rassistische Zeit erleben?“
Berechtigter Ärger über kurzsichtige Elite
Der Erfolg ist auch dem 28-jährigen RN-Vorsitzenden zuzuschreiben, erklärt eldiario.es:
„Bardella hat seine Partei zur Lieblingspartei der jungen Leute gemacht. Auf Kundgebungen begeistert er sie, auf Tiktok wirkt er ungezwungen und verteidigt ein homogenes (weit von der Realität entferntes) Frankreich. ... Die Probleme, die diese jungen Leute anprangern, haben nichts mit Herkunft zu tun, sondern mit sozialer Ungleichheit. ... Die (oft berechtigte) Unzufriedenheit mit der Pariser Elite ist die Reaktion auf die Kurzsichtigkeit, mit der diese auf wirtschaftliche Probleme bestimmter Gruppen blickt. ... Hier gedeiht der Diskurs der Rechtsextremen. Und das ist kein französisches Phänomen, wie die Wahlen gezeigt haben.“
Hoffnung auf Schockwirkung
Libération ist entsetzt über Ciottis Schritt, sieht aber auch Chancen:
„Ciottis Ankündigung wird in die Geschichte eingehen wie ein Schlag ins Gesicht der Vergangenheit dieser Partei, die lange Zeit eine der mächtigsten in Frankreich war. Denn obwohl zuvor bereits Breschen geschlagen wurden, hat der Parteichef der Konservativen nun eindeutig einen Damm gebrochen. ... Aus dieser Entscheidung, die offenbar ohne Rücksprache mit den eigenen Reihen getroffen wurde, können dennoch zwei Hoffnungen entstehen. Die erste besteht darin, dass sich die LR-Tenöre aufbäumen. ... Die andere Hoffnung ist, dass die Aussicht auf ein Bündnis LR-RN wie ein Elektroschock auf die Anführer der linken Parteien wirkt und ihnen klarmacht, dass sie weggefegt werden, wenn sie sich nicht zusammenschließen.“
Existenzkrise der Gaullisten
Das ist eine Zerreißprobe für LR, schreibt La Stampa:
„Es ist undenkbar für die Neo-Gaullisten, sich einer Gruppierung anzuschließen, die von Nostalgikern des Nazi-Kollaborateurs Marschall Pétain gegründet wurde. Zwei Senatoren, Sophie Primas und Jean-François Husson, sind aus Protest aus der Partei ausgetreten, aus der nun einhellig der Rücktritt von Ciotti gefordert wird, den man des 'Verrats', der 'Illoyalität' und des 'Opportunismus' beschuldigt. Der Parteivorsitzende, der seit jeher die extremste Strömung der französischen Mitte-Rechts-Partei vertritt, versicherte, dass er in seinem Amt bleiben werde, während Marine Le Pen die 'mutige Entscheidung' ihres potenziellen Verbündeten lobte.“
Kooperation kein Tabu mehr
Die notgedrungene Zusammenarbeit mit Macrons Partei in den vergangenen Jahren hat LR nicht gut getan, meint das rechtskonservative Portal Causeur:
„Kein Wunder also, dass Eric Ciotti in der Auflösung [der Nationalversammlung] eine hervorragende Gelegenheit sah, endlich den Würgegriff zu lockern, der seine Partei dazu zwingt, eine Zwillingspartei von Renaissance zu sein. Derjenige, der ein solches Szenario lange Zeit unmöglich gemacht hat, heißt Jean-Marie Le Pen und trug bestimmte Stigmata des Faschismus. ... Die Ablehnung jeglicher Bündnisse mit ihm war legitim und zeugte von einer gesunden Vision des republikanischen Lagers. Aber Jean-Marie Le Pen ist seit Jahren im Ruhestand. ... Man muss feststellen, dass sich der Rassemblement National stark verändert hat und heute eher einer konservativen Partei entspricht.“
Wette auf zentristische Mehrheit
Laut Diena könnte Macron noch mal die Kurve kriegen:
„Dies wird die sechste vorgezogene Neuwahl in der Geschichte der Fünften Republik sein. ... In allen Fällen bestand das Ziel darin, für Präsidenten ungünstige Trends zu stoppen. ... Macron hat offenbar das gleiche Ziel und hofft, den Anstieg der Popularität von Marine Le Pens RN und kleineren konservativen Kräften einzudämmen – ein riskanter Schritt, aber nicht ohne Erfolgschancen. Macron und seine unterstützende Renaissance-Partei konnten sich lange Zeit weder die Lorbeeren des beliebtesten Politikers noch der beliebtesten Macht des Landes sichern. Die Fragmentierung der Wählerschaft in Verbindung mit dem Wahlsystem hat jedoch dazu geführt, dass Macron und Renaissance für die Mehrheit der Wähler das kleinere Übel sind.“
Vabanque à la Macron
LB.ua hat Zweifel, dass das Kalkül des Präsidenten aufgeht:
„Macron hat seinen Gegnern drei Jahre Zeit genommen, die sie hätten nutzen können, um sich auf die Machtübernahme vorzubereiten. … Wird Bardella im Juli ins Premiers-Amt katapultiert, könnte er die Franzosen enttäuschen, die vom Rassemblement National ein nationales Wunder und die Lösung all ihrer Probleme erwarten. Dadurch würde die Position der Rechtsextremen schwächer und Le Pens Sieg [bei der Präsidentschaftswahl] 2027 noch illusorischer. Aber: Will Macron wirklich seine Gegner auf Kosten der französischen Gesellschaft fertig machen, die ohnehin jahrelang unter unpopulären Reformen gelitten hat? Und ist er sicher, dass Bardella scheitern wird? Und was, wenn der neue Premier den Franzosen gefällt?“
Regierungsfähigkeit nicht ausgemacht
Delfi analysiert:
„Einerseits ist die Ankündigung der vorgezogenen Neuwahlen eine politische Realität, die Macron aufgedrängt wurde. ... Andererseits muss die extreme Rechte im Falle eines positiven Ergebnisses auch ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, das Land effektiv zu regieren. ... Hier liegt auch der mögliche Rettungsring des französischen Präsidenten. Erstens müssen Redner jetzt vielleicht zu Machern werden. Zweitens bedeutet eine große Niederlage bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht automatisch eine ebenso große Niederlage bei den nationalen Parlamentswahlen.“
Experiment mit ungewissem Ausgang
Die Frankreich-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Christiane Kaess, macht sich über einen RN-Wahlsieg Gedanken:
„Es ist nicht unmöglich, dass der Rassemblement National in Regierungsverantwortung demaskiert wird ... . Und wenn sie – wie jetzt die Macronisten – auch nur mit einer relativen statt einer absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung regieren müssten, ... sie müssten für ihre Politik Mehrheiten finden. Es ist nicht absehbar, ob sich der Rassemblement National in einer solchen Lage eher abnutzen oder an Unterstützung gewinnen würde. Klar ist aber, dass die Auswirkungen einer extrem rechten Regierung über Frankreich hinausgingen: Die deutsch-französischen Beziehungen, die schon schwierig genug sind, würden einen nie gekannten Tiefpunkt erreichen. Das würde die gesamte EU belasten.“
Wahl ist noch nicht entschieden
Die Politologin Nonna Mayer beschäftigt sich in Le Monde mit der Wahlbeteiligung:
„In Frankreich ist die Wahlbeteiligung wie in allen alten Demokratien im Rückgang begriffen und sozial beeinflusst. Zur traditionellen Enthaltung, die in sozial und kulturell benachteiligten Milieus am ausgeprägtesten ist, gesellt sich ein Generationenphänomen. ... 2022 haben 17 Prozent der unter 30-Jährigen an allen vier Wahlgängen von Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2022 teilgenommen. Bei den Bürgern ab 65 waren es 48 Prozent. So stammen die Stimmen aus einer verkleinerten Wählerschaft, die älter, wohlhabender, weniger von Vielfalt geprägt und rechter ist als die potenzielle Wählerschaft. Es gibt ein immenses Wählerpotential, welches das Kräfteverhältnis ändern könnte, wenn es neu mobilisiert würde.“
Mit wilden Kampagnen wäre es dann vorbei
Der Politologe Alexander Kynew entwirft in einem von Echo übernommenen Telegram-Post ein Szenario, in dem der zu erwartende Wahlerfolg die Rechten eher bändigt als stärkt:
„Die Partei von Le Pen wird die Parlamentswahlen nominell gewinnen. Doch auch dann wird die Mehrheit nur relativ sein, sie hat keine Chance, mehr als die Hälfte der Sitze zu bekommen. Höchstwahrscheinlich gibt es dann eine Koalition. Als Mehrheitspartei wird das RN dann für getroffene Entscheidungen in der Verantwortung stehen, es verzettelt sich in der legislativen Routine und es wird schwieriger, bei den Präsidentschaftswahlen eine wilde populistische Kampagne zu führen. Sollte die Partei in dieser Zeit gezwungen sein, sich in die Mitte zu bewegen, täte das dem politischen System nur gut.“
Spiel mit dem Feuer
L'Opinion klagt:
„Macron hatte mehrere Optionen. Er hätte mit der Missachtung der Parlamentsminderheit Schluss machen und denjenigen am Rande der Macronie ein echtes, tiefgreifendes Reformprogramm, einen Regierungsvertrag, vorschlagen können. ... Das wäre sicherlich der vernünftigste Weg gewesen. ... Stattdessen macht er Tabula rasa und wettet darauf, dass dies ihm neue Trümpfe in die Hand geben wird. ... Stattdessen inszeniert er erneut sein exklusives Duell mit dem Rassemblement National, was jedoch nur zu einer Aufwertung der Partei von Marine Le Pen führt. ... Stattdessen löst er die Nationalversammlung auf und nimmt die Gefahr in Kauf, die extreme Rechte im Land an die Macht zu bringen.“
Fragwürdig und übereilt
Macron hätte abwarten sollen, meint Politologin Olessja Jachno auf Facebook:
„In Wirklichkeit war das Ergebnis vorhersehbar. Genauso wie der Trend zur Zunahme rechtsextremer Einstellungen in ganz Europa. Die Frage ist, ob es sich lohnt, deshalb vorgezogene Wahlen auszurufen. Denn unter den Rechtsaußen-Parteien selbst ist die Einigkeit keineswegs so selbstverständlich und sie werden wohl kaum eine Mehrheit bilden können. Macron hätte einfach abwarten können, bis der Aufwärtstrend der Rechten nachlässt, statt eine Neuwahl auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs zu verkünden.“
Die Verantwortung lastet jetzt auf jedem Einzelnen
Frankreich steuert auf einen historischen Moment zu, betont La Croix:
„Die Entscheidung des Präsidenten stellt auch den RN mit dem Rücken zur Wand: Hat diese Partei, die stets als Protestbewegung auftrat, ihren Wandel zur Regierungspartei vollzogen? Vor allem die Wähler konfrontiert der Präsident mit ihrer Verantwortung. Mit dieser Entscheidung fordert er jeden einzelnen auf, sich angesichts der nationalistischen Gefahr, die das Land bedroht, aus seiner Erstarrung zu lösen – allen voran die Hälfte von ihnen, die am Sonntag nicht an die Urne gegangen ist. Die von Macron getroffene Entscheidung ist schwerwiegend. Sie leitet eine Phase unerlässlicher Klärung ein. Es liegt nun an jedem Franzosen, die richtige Entscheidung zu treffen.“
Auch Scholz sollte Konsequenzen ziehen
Macron zeigt die Größe, die dem deutschen Kanzler fehlt, stellt die Tageszeitung Welt fest:
„[Macron] stellt sich der politischen Realität und dem Wählerwillen. ... Seiner Entscheidung muss man Respekt zollen. ... Für Olaf Scholz sind Konsequenz und Größe in seiner Rolle als Kanzler zu Fremdwörtern geworden ... Die Wirtschaft stöhnt in einem bisher nie dagewesenen Ton über den wirtschaftspolitischen Kurs, die Salami-Taktik bei Waffenlieferungen und -freigaben irritiert, und bei innenpolitischen Themen wie Sicherheit und Migration wacht Scholz immer erst auf, wenn es schon zu spät ist. Es scheint Scholz nicht zu interessieren. Die Stärke der AfD ist vor allem eine Schwäche der Ampel. Olaf Scholz kann nicht weiter tatenlos zusehen und muss politische Verantwortung übernehmen. ... Eine 14-Prozent-Partei kann nicht den Kanzler stellen.“