Frankreich-Wahl: Was Europa jetzt erwartet
Nach dem Wahlsieg des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) bei der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich fragen sich europäische Kommentatoren, was die Folgen über das Land hinaus sein könnten. Sind grundsätzliche Werte und Vorgehensweisen der EU in Gefahr? Stehen die gemeinsame Wirtschaftspolitik, Westorientierung und Unterstützung für die Ukraine in Frage?
Ein Land ohne jede Vision
Le Figaro vermisst in der aktuellen Debatte die wirklich wichtigen Themen:
„Im Wahlkampf wurde weder über die Ukraine noch über die Kriegswirtschaft, die Umwelt, das Sozialmodell, die langfristigen öffentlichen Finanzen, die Technologie oder den Rückstand Europas gegenüber den USA gesprochen. Der Nouveau Front Populaire hat sein Programm in reine Demagogie gehüllt, der RN seines auf einen dürftigen Katalog reduziert. Das Präsidentenlager, das von seinem eigenen Chef 'zombifiziert' wurde, hat gar kein Programm mehr, mit der Rücknahme der Reform der Arbeitslosenversicherung am Sonntag als letztes Symbol dieser Auflösung. Das überschuldete Frankreich, das vor enormen Herausforderungen steht, steht ohne jeden Plan da. ... Da sind nur individuelle Projekte im Hinblick auf [die Präsidentschaftswahl] 2027.“
Ukraine-Haltung nicht ausschlaggebend
Eine pro-russische Wende war die Wahl eher nicht, erklärt Politologe Abbas Galliamow auf Facebook:
„Es wäre ein Irrtum zu denken, das hohe Ergebnis der französischen Ultrarechten habe mit ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine zu tun. Das ist die letzte Sorge der Wählerschaft. Ganz oben auf der Liste der Probleme steht die Migration. ... Die Leute glauben nicht mehr, dass Macron und Konsorten dieses Problem lösen können, daher setzen sie alle Hoffnungen auf die Ultrarechten. ... Was die Haltung zum Krieg angeht, so haben die Russen da nichts zu gewinnen. Im Winter hat YouGov die Franzosen geradeheraus gefragt, wen sie als Sieger sehen wollen: 58 Prozent der Befragten nannten die Ukraine, Russland 11 Prozent.“
Das Ende fundamentaler Prinzipien
Corriere della Sera befürchtet Schlimmstes:
„Wenn die Lepenisten tun würden, was sie versprochen haben, wäre das das Ende von Europa. Das Ende des Grundprinzips, dass das Gemeinschaftsrecht über dem nationalen Recht steht. Das Ende der gemeinsamen Schulden und des gemeinsamen Verteidigungsprojekts, des Aufbau- und Resilienzplans PNRR, der Eurobonds, der europäischen Solidarität mit der Ukraine. Für Frankreich ein halber Selbstmord, denn Frankreichs Stärke ist eher politisch als wirtschaftlich. ... Bei rationaler Betrachtung liegt der politische Raum Frankreichs in Europa. ... Aber die Vernunft schläft schon seit geraumer Zeit.“
Keine Gefahr für die EU
Die Welt beruhigt:
„Dem Großteil der Menschen geht es um die Balance zwischen Nation und Europa, um die eigene Sprache und Kultur, um Kontrolle. Abschaffen will man EU und Euro deshalb aber noch lange nicht. Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni oder Marine Le Pen hatten erst dann reale Chancen auf die Macht, als sie ihren Nationalismus abschwächten. Sind sie nun Wölfe im Schafspelz, wie manche mutmaßen? Niemand kann es wissen. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass auch sie den Gleichgewichts-Regeln Europas unterworfen sind, wenn sie regieren wollen. Nicht das Erstarken rechtsnationaler Parteien ist die Gefahr für Europa. Die Gefahr ist, dass Europa die Balance verliert. Zu viel Nation zerstört das Friedensprojekt. Zu viel Europa aber auch.“
Gefährliche Moskau-Nähe des RN
Frankreich wird zu einem internationalen Risikofaktor für den Westen, warnt Le Quotidien:
„Die prorussischen Tendenzen von Jordan Bardellas Schergen sind wohlbekannt. Es besteht das augenscheinliche Risiko, dass der Kreml dank seiner nunmehr gut etablierten RN-Mitarbeiter einige Strippen ziehen kann. ... Es gibt einige Staatsgeheimnisse, die recht schnell nach Moskau dringen könnten im Gegenzug zu einigen kleinen Koffern voller Geldscheine. … Dies wird die Wahrnehmung Frankreichs bei seinen historischen Verbündeten erheblich verändern. … Andere Länder Europas haben auch extrem rechte Regierungen, doch die arbeiten in Koalitionen mit traditionelleren Parteien. ... Frankreich droht schlicht und einfach, in einen Abgrund zu stürzen und einige Jahre darin zu bleiben.“
Ukraine-Frage spaltet Ultrarechte zusehends
Der RN-Vorsitzende Jordan Bardella hat jüngst mit pro-ukrainischen Positionen überrascht. Adevărul fragt sich, wie ernst es der Partei damit wirklich ist:
„Im Moment ist die Diskurswende im europäischen Spiel auf höchster Ebene von enormer Bedeutung. ... Dass der Chef der Partei, die einst von der Familie Le Pen geführt wurde, dem Symbol der radikalen und extrem lautstarken Rechtsextremen in Frankreich und Europa, vom 'russischen Imperialismus' spricht, ist an sich schon eine Revolution und nicht nur eine einfache Kursänderung, wie sie in der Politik so üblich ist. ... Es ist das erste Anzeichen dafür, dass sich innerhalb der 'alten Garde' der großen Parteien der extremen Rechten, zumindest in der EU, unter dem derzeitigen politischen Druck eine Bruchlinie zu bilden beginnt.“
Versuchen, die Stimmung der Wähler zu verstehen
Postimees überlegt, wie man mit der neuen Situation in Europa zurecht kommen soll:
„In Europa ist alles miteinander verknüpft, auch die Innen- und Außenpolitik. Die Tatsache, dass die extreme Rechte in Frankreich, Deutschland und auch in Italien an Popularität gewinnt, könnte die Fortsetzung der derzeitigen Hilfe für die Ukraine verhindern und ein stärkeres Gewicht für Anti-Einwanderungspolitik bedeuten. ... Gleichzeitig dürfen wir aber auch nicht jammern. Wir müssen verstehen, warum die Wähler in vielen europäischen Ländern so entschieden haben, und in der Lage sein, mit neuen Regierungen und politischen Kräften zusammenzuarbeiten, wenn es nötig ist. Die Mittelschichten in Europa haben sich von den herrschenden Eliten distanziert, die nicht auf ihre Interessen eingehen.“