Landtagswahlen: Was verändert sich in Deutschland?

Mit Spannung verfolgt die europäische Presse die Entwicklungen vor den am Sonntag stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Kommentatoren suchen Erklärungen für die hohen Umfragewerte der AfD, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird, sowie des neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Auch für die wahrscheinlich komplizierten Koalitionsverhandlungen danach gibt es schon Ratschläge.

Alle Zitate öffnen/schließen
Mladá fronta dnes (CZ) /

Die Stunde der Frustrierten

Mladá fronta dnes beschreibt die Ausgangslage so:

„Die Menschen in der ehemaligen DDR sind frustriert. Sie haben genug von karikierenden Kommentaren darüber, dass sie die Erben von Honeckers rückständigem Osten seien, den der 'fortgeschrittene' Westen Deutschlands mächtig unterstützen musste. Sie haben das Gefühl, unter Vormundschaft zu stehen. ... Und die Menschen in Thüringen und Sachsen haben den Eindruck, dass es in ganz Deutschland ähnlich bergab geht. Die Politik dort ist daher polarisiert und fragmentiert, man ist bereit, jedem zu glauben, der sich zumindest zu den Problemen äußert, etwa Politikern der AfD oder des Bündnisses von Sahra Wagenknecht.“

The Economist (GB) /

Linke genauso ausländerfeindlich wie Rechte

Vom BSW kommen ähnliche Parolen wie von der AfD, bemerkt The Economist:

„Neben ihrem Wunsch, die Reichen zu schröpfen, sticht bei Sahra Wagenknecht vor allem ihre offenkundige Feindseligkeit gegenüber Migranten hervor. Ihre Behauptung, es gebe 'keinen Platz mehr', um Flüchtlinge aufzunehmen, ist die Art von Rhetorik, die der AfD geholfen hat, in den Umfragen an die Spitze zu gelangen. Eine Messerattacke wie die des syrischen Asylbewerbers am 24. August, bei der drei Menschen ums Leben kamen, hätte früher nur der extremen Rechten unerwartete politische Schützenhilfe geleistet. In der derzeitigen Situation dürften Wagenknecht und die Ihren genauso profitieren.“

Göteborgs-Posten (SE) /

Autoritärer Antiautoritarismus

Göteborgs-Posten ist besorgt:

„Die besondere Geschichte Deutschlands macht es den deutschen Parteien besonders schwer, mit rechtspopulistischer Unzufriedenheit umzugehen. Dass sich die AfD radikalisiert hat, hängt mit dem scharfen Konflikt mit der übrigen Gesellschaft zusammen. Die deutsche politische Kultur fördert keinen Pragmatismus, sondern einen eher zum Radikalismus tendierenden Intellektualismus. In Deutschland gibt es etablierte Stimmen, die ernsthaft über ein Verbot der Partei diskutieren. Deutschland ist in seinem Antiautoritarismus einfach ausgesprochen autoritär. Das Land mag seine Vergangenheit zwar inhaltlich richtig aufgearbeitet haben, aber in der Tiefe ist das nicht der Fall. Es gibt also Anlass, die Entwicklungen bei unserem südlichen Nachbarn im Auge zu behalten.“

Birgün (TR) /

Protest gegen Ukraine-Politik

Dass, für Landtagswahlen eher ungewöhnlich, auch die Außenpolitik eine wichtige Rolle spielt, betont Birgün:

„[Vor allem die] Militär- und Wirtschaftshilfe für die Ukraine, das Wirtschaftsembargo gegen Russland und die Entscheidung, atomwaffenfähige Langstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, gehören zu den Hauptthemen des Wahlkampfs. Das Erstarken von AfD und BSW, die sich bei dieser Frage gegen die Haltung der Bundesregierung stellen, ist eine Folge davon. Die Wähler in diesen Regionen sympathisieren traditionell mehr mit Russland oder sind zumindest besorgt über eine Russlandfeindlichkeit Deutschlands. Für die AfD, die eigentlich eine 'militaristische' Ideologie vertritt, ist die Antikriegshaltung hier ein wahltaktisches Mittel.“

Expressen (SE) /

Von Schweden lernen

Vor brüchigen Koalitionen, die fast allein vom Wunsch getragen werden, rechte Parteien auszuschließen, warnt Expressen in Bezug auf die schwedische Erfahrung vom Januar 2019:

„Die Regierungsbildungen in Dresden und Erfurt dürften ebenso heikel sein wie die in Paris. Eigentlich sollten sie von Stockholm lernen: Schweden – ein Deutschland für Erwachsene. Als Schweden noch in der Vorstellung feststeckte, die Schwedendemokraten seien Pestüberträger, bekamen wir 2019 die Einigung im Januar. Teure und passive Politik ohne gemeinsame Richtung. ... Das Wichtigste in der Politik ist es, sinnvolle Veränderungen herbeizuführen, die den Bürgern eine bessere Zukunft ermöglichen. Auch wenn das bedeutet, dass man inhaltlich über Themen mit Parteien verhandeln muss, die man nicht mag.“

El País (ES) /

Nicht zu simplen Antworten verleiten lassen

El País warnt vor vereinfachenden Parolen im Diskurs um Einwanderung:

„Der Diskurs über Zuwanderung hat sich quer durch das politische Spektrum verhärtet. Der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz verspricht, die Abschiebungen zu beschleunigen. ... Scholz sollte nicht mit Schlagzeilen über das unvermeidliche Unsicherheitsgefühl hausieren gehen, das durch grausame Kriminalität entsteht, sondern stattdessen die Mängel des Systems erklären und Lösungen vorschlagen. Einwanderung ist ein komplexes Phänomen, das es zu bewältigen gilt. Das Bild zu vereinfachen, ermutigt nur zu simplen Antworten.“

Dagens Nyheter (SE) /

Noch mehr Probleme für Europa

Dagens Nyheter ist besorgt:

„Was bedeutet es für uns, wenn Donald Trump wieder Präsident wird, fragen wir uns oft. Doch was bedeuten die Erfolge von AfD und BSW? Sie sind vielleicht ein größeres Problem für Europa. ... Die Geschichte lehrt uns auch, dass das moderne Deutschland sowohl ein erwachsenes als auch ein sehr anständiges Land ist. Was passieren würde, wenn die AfD eines Tages einen Platz in den besseren Kreisen der Macht einnehmen würde, darüber trauen wir uns nicht nachzudenken. Vielleicht sollten wir das tun, denn wenn in Deutschland etwas schiefgeht, dann betrifft das ganz Europa, das lehrt uns die Geschichte.“

Lidové noviny (CZ) /

Die anderen Parteien haben enttäuscht

Lidové noviny versucht, die AfD-Wähler und ihre Motivation zu erklären:

„Viele Ostdeutsche haben bereits alle möglichen Parteien gewählt: Christ- oder Sozialdemokraten für die Aussicht auf wirtschaftlichen Wohlstand bei gleichzeitiger Wahrung der sozialen Sicherheit. Andere stimmten für die Liberalen für Bürokratieabbau und Steuersenkungen. Sogar die Grünen genossen Ansehen, weil sie als einzige die Umweltzerstörung stoppen würden. Doch wen immer sie wählten: Das Ergebnis war nur Desillusionierung gegenüber einem System, dass nach ihrer Meinung nicht auf ihre Forderungen einging. Nun haben viele von ihnen beschlossen, eine Partei auszuprobieren, die verspricht, das derzeitige politische Establishment aufzubrechen, obwohl unklar bleibt, wodurch es ersetzt werden soll.“

Phileleftheros (CY) /

Keine Überraschung

Der Aufstieg der AfD im Osten hat Gründe, betont Phileleftheros:

„35 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Unterschiede zwischen den ehemaligen deutschen Staaten immer noch spürbar. Die wichtigste Rolle spielt jedoch die Tatsache, dass auf der ehemaligen Ostseite die Unsicherheit den Ton in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angibt. Höhere Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzverluste und eine ins Stocken geratene Wirtschaft haben den Weg für die extrem rechte Partei geebnet, die die Zukunftssorgen der Wählerinnen und Wähler ausnutzt. ... In den östlichen Bundesländern sitzt der Frust über Parteien und Politiker tief. Die AfD hat schnell diejenigen 'umarmt', die wütend auf den Staat, die Politiker, das System sind. Ihr Wahlerfolg wird niemanden überraschen.“

Karar (TR) /

Rechtsruck mit schweren Folgen

Selbst gegenüber türkischstämmigen Menschen in Deutschland könnte die Stimmung umschlagen, glaubt Karar:

„Die Messerattacke in Solingen dürfte die einwanderungsfeindlichen Parteien, insbesondere die AfD und das BSW, stärken. ... Es ist wahrscheinlich, dass Deutschland weiter nach rechts rücken wird. Die etablierten Parteien werden sich die Forderungen der Rechten vermehrt zu eigen machen. ... Es ist davon auszugehen, dass sich die Einstellung Deutschlands zur Einwanderung und sogar zum Multikulturalismus bald ändern wird. Die Türkei sollte sich auf eine Verschärfung der Visapolitik und auf 'Anreize' für die Rückkehr türkischstämmiger Menschen einstellen.“

The Guardian (GB) /

BSW könnte unumgänglich werden

Gut möglich, dass CDU und SPD auf das Bündnis Sahra Wagenknecht angewiesen sein werden, prophezeit The Guardian:

„Nach den Landtagswahlen am 1. September werden Gespräche stattfinden, die darauf abzielen, Regierungskoalitionen in Thüringen und Sachsen zu bilden – und die AfD von der Macht fernzuhalten. Für diese Partei existiert die Brandmauer noch. Die Ironie – und Heuchelei – besteht darin, dass die übrigen Parteien gezwungen sein werden, sich mit Wagenknecht zu einigen. Sie ist eine genauso gefährliche, aber ungleich schlauere Vertreterin der neuen extremen Rechten. CDU und SPD wird es zwar nicht schmecken, aber möglicherweise wird ihnen keine andere Wahl bleiben, als sich mit Wagenknecht zu verständigen.“

Právo (CZ) /

Wind in die Segel der Extremen

Právo beleuchtet die Rolle der Messerattacke in Nordrhein-Westfalen:

„Solingen wird den Protestparteien AfD und BSW am Wochenende weiteren Wind in die Segel geben. Aber die politischen Strömungen sind auch so schon gefestigt. Stärkere Auswirkungen solcher Ereignisse sind für die Bundestagswahlen im Herbst kommenden Jahres zu erwarten. Wenn es der Ampelkoalition nicht gelingen sollte, eine sichtbare Veränderung in der Migrationspolitik zu vollziehen, könnte die Protestwelle aus dem Osten letztlich auch in den Bundestag schwappen. Jedes weitere Solingen hilft den politisch Extremen auf dem Marsch zur Regierungsmacht, deren erste Schritte an diesem Sonntag im thüringischen Erfurt zu erwarten sind.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Drohender Knockout der Koalition in Berlin

Radio Kommersant FM sieht Deutschland vor einem politischen Umbruch:

„Die Parteien der derzeitigen Regierungskoalition laufen Gefahr, die Fünf-Prozent-Hürde zu verfehlen und nicht in die Landesparlamente einzuziehen. ... Es entsteht also eine paradoxe Situation. Damit ein Bundesland nicht ganz ohne Regierung dasteht, müssen die Christdemokraten eine Koalition mit einer der Nicht-Systemparteien eingehen – entweder mit den Anhängern von Sahra Wagenknecht oder, unter Bruch aller Tabus, mit der AfD. Alles in allem steht Deutschland vor einer dramatischen und unvorhersehbaren neuen politischen Saison, die in der Bundestagswahl im Herbst 2025 gipfelt. Es wäre ein Wunder, wenn die derzeitige Koalition dann an der Macht bleiben würde.“