Was bedeutet Israels Offensive im Libanon?
Trotz der Raketenangriffe des Iran hat Israel seine Luftschläge im Südlibanon fortgesetzt. In der Nacht auf Dienstag begann es zudem mit einer Bodenoffensive. Nach Angaben des israelischen Militärs geht es dabei um "begrenzte und gezielte Angriffe gegen Hisbollah-Ziele". Die Kommentatoren der europäischen Presse sehen die Operation in einem sehr viel größeren Kontext.
Auch die Nachbarn brauchen Sicherheit
Die Bodenoffensive im Libanon wird Israel kaum Frieden bringen, meint Dagens Nyheter:
„Im vergangenen Jahr schien Israels Kriegsführung allzu oft eher den Interessen Benjamin Netanjahus zu dienen als denen der eigenen Bevölkerung. Der Premierminister hat eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern und eine Rolle der Fatah im Gazastreifen abgelehnt. Gegen einen längeren Waffenstillstand hat er sich konsequent gewehrt. ... Nasrallahs Tod und die Offensive gegen die Hisbollah haben Israels Militär und Geheimdienste wieder aufgerichtet. ... Die Voraussetzungen für ein neues Gleichgewicht im Nahen Osten, das Israel Sicherheit bietet, erfordern jedoch die Bereitschaft, auch den Libanesen und Palästinensern Sicherheit zu bieten.“
Vorgehen ist nachvollziehbar
Dass Netanjahu Truppen in den Libanon schickt, ist für die Süddeutsche Zeitung verständlich:
„Er muss 60 000 aus dem Norden in Sicherheit gebrachte Israelis nach einem Jahr zurück nach Hause bringen. Die Sicherung dieser Region wäre für jeden Regierungschef vorrangig, gleich welcher Couleur. Dass es Netanjahu dabei nur um den eigenen Machterhalt gehe, greift also zu kurz. Der Israeli sieht seine Stunde gekommen, will die Hisbollah zerschlagen. Auch das lässt sich nach vier Jahrzehnten Gegnerschaft nachvollziehen.“
Kampf gegen die Hydra
Die Bodenoffensive im Libanon wird kein Spaziergang für Israel, analysiert 24tv.ua:
„Kampfhandlungen im Bergland, wo die Hisbollah über ein verzweigtes Netz von Bunkern verfügt (nicht im Sand wie die Hamas in Gaza, sondern im Gestein), sind äußerst schwierig. Auch hat die Hisbollah immer noch viele Raketen und Kämpfer. Viele von ihnen wurden für autonomes Handeln ausgebildet und werden den Widerstand noch lange fortsetzen können – auch wenn ihre 'Generäle' tot sind. Außerdem hat die Hisbollah ihre Taktik der menschlichen Schutzschilde nicht aufgegeben, was bedeutet, dass es unvermeidlich Opfer unter der Zivilbevölkerung geben wird. ... Der Krieg wird einem Kampf gegen die Hydra gleichen, bei der anstelle jedes abgeschlagenen Kopfes neue wachsen.“
Die Hisbollah muss weg
Der Westen sollte Israels Vorgehen unterstützen, fordert De Telegraaf:
„Die schiitische Terrorbewegung verfügt über etwa 100.000 Raketen. Für wen werden sie bestimmt sein? Jeder, der das Ziel der Organisation kennt, weiß es: für die Vernichtung des israelischen Staates. ... Die Hisbollah stellt eine Gefahr für die Stabilität des Nahen Ostens dar, und eine Bedrohung für den Westen dazu. Israel verdient Unterstützung bei der totalen Vernichtung dieser terroristischen Organisation. Bis dahin wird dieser Stellvertreter weiter die Interessen des Iran vertreten.“
Alte Fehler, neue Feinde
Vor einer Wiederholung der Geschichte warnt Times of Malta:
„Im Jahr 1982 marschierte Israel in den Libanon ein und belagerte die Hauptstadt Beirut, inmitten des libanesischen Bürgerkrieges. ... Die Bodeninvasion hatte nicht nur den Tod Tausender Zivilisten zur Folge, die Besetzung des Libanon stürzte auch eine ohnehin schwache Nation in ein dauerhaftes politisches und wirtschaftliches Chaos und führte zur Gründung der Hisbollah, eben jener Gruppe, die heute Nordisrael bedroht. ... 1982 hatte die Bodenoffensive katastrophale Folgen für alle Beteiligten und schuf die Voraussetzungen für jahrzehntelange Feindseligkeiten an der libanesisch-israelischen Grenze. Eine ähnliche Offensive jetzt dürfte mit ziemlicher Sicherheit zu ähnlichen Ergebnissen führen.“
Washington schaut machtlos zu
Nicht einmal die USA sind in der Lage, Israel vor einer weiteren Eskalation des Krieges abzuhalten, schreibt Público:
„Die Regierung Netanjahu macht, was sie will, sie hat eine Strategie, die sie nicht aufgeben will, und die USA haben diese entmutigende Rolle übernommen: Seit Monaten appellieren sie an den gesunden Menschenverstand, manchmal scheint es sogar, als würde man auf sie hören ... tut man aber nicht. Was in den letzten Tagen passiert ist, ist paradigmatisch. ... Es ist klar, dass eine Eskalation in der Region in niemandes Interesse ist, dass sie gefährlich ist, dass ein Waffenstillstand und ernsthafte Verhandlungen notwendig sind. Dass Israel an einem Ende der Eskalation nicht interessiert zu sein scheint - und dass die US-Strategie der Appelle ohne Konsequenzen zu nichts führt.“
Nächster Schritt Iran?
Israel plant bereits über den Libanon hinaus, ist La Repubblica überzeugt:
„Zwei Tage nach dem Blutbad in den Kibbuzim hatte Benjamin Netanjahu erklärt, die israelische Reaktion auf den Hamas-Angriff werde 'den Nahen Osten umgestalten'. Ein Jahr später werden diese Worte neu gelesen, als Schlüssel für die nächste Phase des Krieges. ... Angestachelt durch die Tötung des Hisbollah-Führers und die daraus resultierende Wiederherstellung des innenpolitischen Konsenses wandte sich Netanjahu gestern überraschend an die iranische Bevölkerung: Es gebe keinen Ort im Nahen Osten, den Israel nicht erreichen könne. Wenn der Iran endlich frei sei, und dieser Zeitpunkt werde viel früher kommen, als man glaube, werde alles anders sein.“
Teheran trifft schon Vorkehrungen
Nach der Ermordung des Hisbollah-Anführers Nasrallah soll Irans Oberster Führer Ali Chamenei an einen sicheren Ort gebracht worden sein. Für T24 wäre das ein peinliches Eingeständnis des Iran, denn
„wenn das stimmt, fühlt sich der Iran nicht einmal im eigenen Land vor Israel sicher. Wir wissen, dass Israel schon vor der Ermordung von [Hamas-Anführer] Hanija Operationen auf iranischem Gebiet durchgeführt und eine Reihe von Personen getötet hat, die angeblich am Atomwaffenprojekt gearbeitet haben. Ist die Nachricht, dass der Ayatollah 'in ein sicheres Gebiet gebracht' wurde, nicht ein Eingeständnis, dass Teile des Irans vor einem israelischen Angriff nicht sicher sind?“
Angesichts von Flüchtlingen nicht zaudern
Sollte es zu einer Flüchtlingswelle kommen, muss Europa den Menschen Schutz gewähren, fordert die taz:
„Ohne Wenn und Aber. Das gilt auch für die fast eine Million registrierten syrischen Flüchtlinge sowie die fast eine halbe Million palästinensischen Flüchtlinge, die bisher im Libanon mit seinen insgesamt rund sechs Millionen Einwohnern Zuflucht gesucht haben. Das Land steht kurz vor dem Kollaps. Dem Erstarken der Rechtsradikalen, wie jetzt wieder in Österreich, zum Trotz: Europa darf jetzt nicht zaudern. Die EU hat nach Russlands Invasion Millionen Ukrainer:innen sofort als Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Zu Recht! Nun muss sie im Fall Libanon das Gleiche tun.“