Kriegsrecht für eine Nacht: Wie stabil ist Südkorea?
Völlig überraschend verhängte Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol am Dienstagabend in einer Fernsehansprache das Kriegsrecht. Er begründete den Entscheid damit, dass die Opposition mit Nordkorea sympathisiere und die Regierung bewusst ausbremsen würde. Das Parlament stimmte nur wenige Stunden später für die Aufhebung des Kriegsrechts, der Präsident zog es daraufhin zurück. Europas Presse analysiert den Vorgang.
Gefährliche Risse in der Gesellschaft
Wie wehrhaft die Demokratie ist, werden erst die kommenden Tage zeigen, meint der Spiegel:
„Die Innenstadt von Seoul wird sich wohl mit Demonstranten füllen, womöglich könnte bald ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten laufen. Es könnte ein Moment sein, in dem die Menschen zusammenkommen, wie so oft in Krisen in der Vergangenheit. Doch die Risse innerhalb der Gesellschaft und die Feindseligkeit der politischen Lager, die auch Yoon geschürt hat, sind gefährlich. Genau diese Risse könnte Nordkorea ausnutzen: mit Desinformation und Fake News. Für Südkorea ist zu hoffen, dass die Menschen jetzt für die Freiheit zusammenstehen, die sie sich einst hart erkämpft haben.“
Der Präsident hat den Verstand verloren
Südkorea wäre beinahe Opfer einer persönlichen Krise des Präsidenten geworden, schreibt Visão:
„Das südkoreanische politische Modell ist eine Nachbildung des US-Systems. Der Präsident regiert, wählt den Premierminister und die Regierungsmitglieder, erlässt aber keine Gesetze. Er kann das Kriegsrecht verhängen, aber die Nationalversammlung hat die Macht, diese Entscheidung aufzuheben. Und genau das hat sie getan, ohne zu zögern. Dies ist keine politische Krise oder eine Krise der nationalen Sicherheit. Es ist eine persönliche Krise. Der Präsident ist wütend über die Ermittlungen gegen seine Frau, die der Börsenmanipulation beschuldigt wird. Und er hat den Verstand verloren. Er hat versucht, dem Militär den Sturm auf das Parlament zu befehlen, ist aber gescheitert.“
Die USA haben geschlafen
Dass die USA den Machtkampf nicht kommen sahen, ist eine Schande für Joe Biden, schimpft Jutarnji list:
„Die Tatsache, dass solch eine Entwicklung das Weiße Haus völlig unvorbereitet traf, ist der vielleicht bombastischste Teil der Geschichte, denn es zeigt, in welchem Maße Joe Biden 'am Steuer eingeschlafen ist' und wie er das Steuer des ganzen Westens in den letzten Monaten seines ersten und letzten Mandates auf Gedeih und Verderb der unruhigen See der aktuellen geopolitischen Umbrüche überlassen hat. Es ist schwer, fast unmöglich, eine sinnvolle Rechtfertigung für die stärkste Macht mit dem besten Geheimdienst der Welt zu finden, wenn sie einen versuchten Staatsstreich in einem Land mit der vielleicht größten US-Militärbasis und etwa 30.000 US-Soldaten nicht bemerkt haben.“
Haarscharf am Staatsstreich vorbei
Die Gefahr eines Militärputsches hält Helsingin Sanomat erst einmal für gebannt:
„Die Ausrufung des Kriegsrechts sieht wie ein Schachzug des Präsidenten aus, um eine politische Pattsituation zu beenden. Man könnte ihn sogar als versuchten Staatsstreich bezeichnen. … Die Armee konnte den Ausnahmezustand trotz des Parlamentsbeschlusses noch einige Stunden lang aufrechterhalten. Hätte sie mit der Unterstützung des Präsidenten länger durchgehalten, wäre dies de facto ein Militärputsch gewesen. Mit dem Sinneswandel des Präsidenten heute Morgen und der Aufhebung des Ausnahmezustands scheint diese Gefahr gebannt zu sein.“
Präsident in der Sackgasse
Zuletzt benutzte Präsident Yoon vermehrt sein Vetorecht, doch nun wusste er nicht weiter, analysiert Tvnet:
„In Bezug auf den Staatshaushalt besitzt der Präsident kein Vetorecht, so dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen Parlament und Regierung nun, wenn der Haushaltsplan für das nächste Jahr verabschiedet werden muss, in eine Sackgasse geraten sind. ... Ob Yoon Suk-yeols riskanter Schritt mit der Verhängung des Kriegsrechts positive Folgen für seine Politik oder Partei haben könnte, lässt sich derzeit nur schwer vorhersagen. Bisher berichten südkoreanische Medien, dass dieser Schritt das Vertrauen sowohl der politischen Elite als auch der Öffentlichkeit in den Präsidenten weiter untergraben hat und dass es Forderungen nach seiner Amtsenthebung geben wird.“
Yoon hat sich verkalkuliert
Yoon dürfte zu weit gegangen sein, glaubt The Economist:
.„Seine Aktion ging weit über die Grenzen des üblichen politischen Handelns im demokratischen Südkorea hinaus und erinnert ans Vorgehen von Park Chung-hee, einem Militärdiktator, der das Land in den 1960er und 1970er Jahren regierte. ... Yoon hoffte offenbar, seine Regierung zu retten. Stattdessen hat er mit ziemlicher Sicherheit seinen eigenen Untergang besiegelt. Wenn er nicht selbst zurücktritt, wird das Parlament wahrscheinlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einleiten. ... Die außenpolitischen Auswirkungen eines Machtwechsels in Seoul wären enorm – und kommen zu einem heiklen Zeitpunkt, weil sich Donald Trump auf seinen Amtsantritt vorbereitet und Nordkorea eine immer feindlichere Haltung gegenüber dem Süden einnimmt“
Stresstest für die Demokratie
Bogusław M. Majewski, ehemaliger polnischer Botschafter in Singapur, ehemaliger Diplomat in den USA und Brüssel, sieht in Onet.pl Südkoreas Demokratie auf die Probe gestellt:
„Seit der Gründung Südkoreas im Jahr 1948 ist dies das zehnte Mal, dass das Kriegsrecht verhängt wurde. Jedes Mal war es eine Reaktion auf interne Spannungen. Doch das letzte Mal, dass es verhängt wurde, ist 43 Jahre her. Das bedeutet, dass fast zwei Generationen von Koreanern bereits ohne jegliches Bewusstsein dafür gelebt haben, was Kriegsrecht ist, was die Aussetzung politischer Rechte, der Verfassungsorgane und der Meinungsfreiheit bedeutet. ... Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Demokratie in Südkorea ausreichend gefestigt ist, um sich gegen eine Diktatur zu behaupten.“