Kriegsrecht für eine Nacht: Wie stabil ist Südkorea?

Völlig überraschend verhängte Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol am Dienstagabend in einer Fernsehansprache das Kriegsrecht. Er begründete den Entscheid damit, dass die Opposition mit Nordkorea sympathisiere und die Regierung bewusst ausbremsen würde. Das Parlament stimmte nur wenige Stunden später für die Aufhebung des Kriegsrechts, der Präsident zog es daraufhin zurück. Europas Presse analysiert den Vorgang.

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Helsingin Sanomat (FI) /

Haarscharf am Staatsstreich vorbei

Die Gefahr eines Militärputsches hält Helsingin Sanomat erst einmal für gebannt:

„Die Ausrufung des Kriegsrechts sieht wie ein Schachzug des Präsidenten aus, um eine politische Pattsituation zu beenden. Man könnte ihn sogar als versuchten Staatsstreich bezeichnen. … Die Armee konnte den Ausnahmezustand trotz des Parlamentsbeschlusses noch einige Stunden lang aufrechterhalten. Hätte sie mit der Unterstützung des Präsidenten länger durchgehalten, wäre dies de facto ein Militärputsch gewesen. Mit dem Sinneswandel des Präsidenten heute Morgen und der Aufhebung des Ausnahmezustands scheint diese Gefahr gebannt zu sein.“

Tvnet (LV) /

Präsident in der Sackgasse

Zuletzt benutzte Präsident Yoon vermehrt sein Vetorecht, doch nun wusste er nicht weiter, analysiert Tvnet:

„In Bezug auf den Staatshaushalt besitzt der Präsident kein Vetorecht, so dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen Parlament und Regierung nun, wenn der Haushaltsplan für das nächste Jahr verabschiedet werden muss, in eine Sackgasse geraten sind. ... Ob Yoon Suk-yeols riskanter Schritt mit der Verhängung des Kriegsrechts positive Folgen für seine Politik oder Partei haben könnte, lässt sich derzeit nur schwer vorhersagen. Bisher berichten südkoreanische Medien, dass dieser Schritt das Vertrauen sowohl der politischen Elite als auch der Öffentlichkeit in den Präsidenten weiter untergraben hat und dass es Forderungen nach seiner Amtsenthebung geben wird.“

The Economist (GB) /

Yoon hat sich verkalkuliert

Yoon dürfte zu weit gegangen sein, glaubt The Economist:

„Seine Aktion ging weit über die Grenzen des üblichen politischen Handelns im demokratischen Südkorea hinaus und erinnert ans Vorgehen von Park Chung-hee, einem Militärdiktator, der das Land in den 1960er und 1970er Jahren regierte. ... Yoon hoffte offenbar, seine Regierung zu retten. Stattdessen hat er mit ziemlicher Sicherheit seinen eigenen Untergang besiegelt. Wenn er nicht selbst zurücktritt, wird das Parlament wahrscheinlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einleiten. ... Die außenpolitischen Auswirkungen eines Machtwechsels in Seoul wären enorm – und kommen zu einem heiklen Zeitpunkt, weil sich Donald Trump auf seinen Amtsantritt vorbereitet und Nordkorea eine immer feindlichere Haltung gegenüber dem Süden einnimmt“

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Onet.pl (PL) /

Stresstest für die Demokratie

Bogusław M. Majewski, ehemaliger polnischer Botschafter in Singapur, ehemaliger Diplomat in den USA und Brüssel, sieht in Onet.pl Südkoreas Demokratie auf die Probe gestellt:

„Seit der Gründung Südkoreas im Jahr 1948 ist dies das zehnte Mal, dass das Kriegsrecht verhängt wurde. Jedes Mal war es eine Reaktion auf interne Spannungen. Doch das letzte Mal, dass es verhängt wurde, ist 43 Jahre her. Das bedeutet, dass fast zwei Generationen von Koreanern bereits ohne jegliches Bewusstsein dafür gelebt haben, was Kriegsrecht ist, was die Aussetzung politischer Rechte, der Verfassungsorgane und der Meinungsfreiheit bedeutet. ... Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Demokratie in Südkorea ausreichend gefestigt ist, um sich gegen eine Diktatur zu behaupten.“