Welche Botschaft geht heute von Auschwitz aus?
Vor 80 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Nur nach und nach erschloss sich der Öffentlichkeit die Dimension der NS-Verbrechen. Das KZ, in dem die Nationalsozialisten mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet hatten, wurde zum Inbegriff des Holocaust. Polen beging den Jahrestag mit einer internationalen Gedenkveranstaltung mit hochrangigen Gästen und ehemaligen Insassen des Lagers. Europas Presse reflektiert.
Lange aus der Verantwortung gestohlen
Der Kurier kritisiert rückblickend die schleppende Aufarbeitung des Holocaust in Österreich:
„An die 700.000 Österreicher waren Mitglieder der NSDAP, kleine und große Massenmörder ganz vorne mit dabei – und dennoch hat es mehr als 30 Jahre gedauert, bis endlich Diskussionen über Schuld und Verantwortung in der eigenen Bevölkerung einsetzten. Und es dauerte schändliche 50 Jahre, bis der 'Österreich-Pavillon' in Auschwitz erneuert wurde – wo sich Österreich bis dahin als 'erstes Opfer des Nationalsozialismus' präsentiert hatte. ... Sind wir, die Kinder, die Enkelkinder dieser Generation der Vernichtungsmaschinisten noch mitverantwortlich? Lastet auf uns, den Nachkommen, noch immer Schuld? Ja – wenn wir beginnen zu vergessen.“
Völlige Verkehrung
Le Temps macht sich Sorgen, dass die Welt nichts aus der Geschichte gelernt hat:
„Der Westen zerreißt sich in Polemiken darüber, ob bei der Amtseinführung des mächtigsten Mannes der Welt ein Hitlergruß gezeigt wurde, während in Deutschland die 'Brandmauern' gegenüber der extremen Rechten widerstandslos zusammenbrechen. In einer Welt voller Kriege, Gewalt, Rassismus und Abschottung ist noch etwas anderes besonders frappierend: Weder Putin noch Netanjahu nehmen an den Gedenkfeiern in Auschwitz teil. Beide werden von der internationalen Justiz verfolgt. ... Ersterer schreibt die Geschichte im Namen eines angeblichen Kampfes 'gegen den Nazismus' in der Ukraine um, während zweiterer im Namen des aus dem Zweiten Weltkrieg übernommenen 'Nie wieder' die – mutmaßlichen – Verbrechen in Gaza rechtfertigt.“
In seiner Schrecklichkeit einzigartig
Vergleiche mit anderen Konflikten und Kriegen verbieten sich im Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenken, findet The Daily Telegraph:
„Der Antisemitismus ist auf gewisse Weise einzigartig. Kein anderer Rassismus ist so hartnäckig und so virulent. Einige der gestrigen Klagen [am Holocaust-Gedenktag] richteten sich gegen Krieg im Allgemeinen. Aber der Holocaust, auch wenn er durch die Mordgelegenheiten, die ein kriegerischer Konflikt mit sich bringt, erleichtert wurde, war keine Kriegshandlung. Er war die ultimative Steigerung – die 'Endlösung' – einer politischen Theorie, nach der die Juden die Quelle des Bösen in der Welt sind. ... Heute wird der Holocaust oft als rhetorisches Mittel missbraucht, um andere Konflikte zu beschreiben.“
Der Jugend oft kein Begriff
Die Neue Zürcher Zeitung ortet im Kreis junger Menschen – vor allem mit Migrationshintergrund – ein großes Wissens- und Verständnisdefizit über den Holocaust:
„Jeder fünfte Jugendliche kann nach einer neuen 'Stern'-Umfrage mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen. Für einen grossen Teil der in hoher Zahl zugewanderten Muslime ist Auschwitz eine ferne Vergangenheit, die mit ihrer eigenen Realität nichts zu tun hat. Aus ihren Herkunftsländern bringen sie Prägungen mit, durch die sie Israel als Todfeind sehen – und Juden in Deutschland gleich mit. Die Ergebnisse sind auf der Strasse, in den Medien und in der Kriminalstatistik zu sehen: importierter Antisemitismus, Israelfeindlichkeit, unkontrollierbarer Islamismus.“
Herausforderung für das Schulsystem
Lehrende müssen besser auf das Thema vorbereitet werden, fordert Libération:
„In Europa, wo heute nur noch 10 Prozent der jüdischen Weltbevölkerung leben – gegenüber 60 Prozent im Jahr 1939 – sind die Antisemiten mehr denn je in der Offensive. Sie sind bestärkt durch die Massaker vom 7. Oktober in Israel und den sofortigen Reflex, die Juden für die schrecklichen Folgen für die Palästinenser verantwortlich zu machen. Lehrkräfte sind oft schlecht darauf vorbereitet, das Thema im Unterricht anzusprechen, da es kaum Fortbildungen gibt und die Fragen zahlreich sind. … Der Zweck des heutigen Gedenkens besteht vor allem darin, aus Auschwitz Lehren für die Gegenwart zu ziehen.“
Wo moderne Technik auf primitive Instinkte trifft
Das Zusammenspiel von Primitivität und Effizienz erschreckt den Historiker Rolf Falter in De Morgen:
„Die Lehre von Auschwitz ist, dass man, sobald man sich für Gewalt und Krieg entscheidet, die primitivsten Instinkte in uns entfesselt. Diese werden dann unvermeidlich verstärkt mit aller Technologie und Kenntnisse der modernen Zivilisation. Am Ende erzeugt man dann nur noch Mord und Vernichtung, in undenkbaren Dimensionen. Auschwitz war, offen gesagt, nicht denkbar ohne den Kontext einer höher entwickelten Gesellschaft. Das ist, in jeder Hinsicht, eine schreckliche Feststellung.“
Faschistische Rhetorik blüht wieder auf
Das Gedenken an den Holocaust ist heute wichtiger denn je, mahnt The Guardian:
„Die extreme Rechte ist in ganz Europa auf dem Vormarsch, auch in Deutschland. Am vergangenen Montag zeigte der reichste Mann der Welt, Elon Musk, bei der Amtseinführung des US-Präsidenten zweimal, was weithin als Hitlergruß verstanden wurde. ... Präsident Trump selbst bedient sich faschistischer Rhetorik, um gegen 'Ungeziefer' zu hetzen und Einwanderer zu beschuldigen, das Blut des Landes zu 'vergiften'. Antisemitismus und andere Formen der Intoleranz waren nie weg. Jetzt blühen sie wieder auf. Echte Anhänger fühlen sich ermutigt, andere machen aus Ehrgeiz oder Gleichgültigkeit mit. Die gewöhnlichen 'Funktionäre', so [der Schriftsteller] Primo Levi, ein Überlebender des Todeslagers, sind zahlreicher und daher gefährlicher als Monster.“
Juden als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklung
Der Umgang mit jüdischen Menschen zeigt, wie es um die heutige Demokratie steht, hebt der Tagesspiegel hervor:
„Und da besteht Anlass zur Vergewisserung, ob nicht eben in dieser Zeit das alte Ressentiment überlebt hat: Juden als das immer noch Fremde. Ihnen, den jüdischen Deutschen, kommt das zunehmend so vor. In den Gemeinden wächst die Furcht. Daran, ob wir uns Rechenschaft ablegen, wie es ist, erkennen wir, inwieweit wir eine Gesellschaft der Vielfalt sind; einer Vielfalt in Gleichheit und nicht der Etikettierung Anderer. Soll ein Ganzes dadurch entstehen, dass man andere ausschließt? So gesehen werden die Juden zum Seismografen unserer gesellschaftlichen Entwicklung.“
Auch Israelkritik ist oft Antisemitismus
Agnieszka Markiewicz und Simone Rodan-Benzaquen von der Interessenvereinigung American Jewish Committee schreiben auf Onet.pl:
„Es ist der jüdische Staat, der der letzte Garant für das 'Nie wieder' ist. Diese Rolle hat Israel jedoch zu einer häufigen Zielscheibe des heutigen Antisemitismus gemacht, der oft als Kritik am politischen Prozess getarnt wird. Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) definiert Antisemitismus u.a. als 'die Leugnung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, zum Beispiel durch die Behauptung, dass die Existenz des Staates Israel ein rassistisches Unterfangen sei'. ... Die Leugnung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, die Delegitimierung seines Staates und die Verzerrung der Erinnerung an den Holocaust, um Israel zu verunglimpfen, sind Formen des Antisemitismus, die allgemein verurteilt werden müssen.“
Niemals nachlassen mit der Erinnerung
Für Kristeligt Dagblad ist die Gefahr eines neuen Holocausts keineswegs gebannt:
„Von 1933 bis 1945 war der Tod der 'Meister aus Deutschland', doch kann der als Barbarei und als das Böse begriffene Tod nicht auf eine Nationalität oder Ideologie beschränkt werden. Im Laufe der Geschichte hat es noch viele andere Völkermorde gegeben, doch die Nazi-Version ist die deutlichste Warnung, was passieren kann, wenn dem Bösen freie Hand gelassen wird. Wir müssen alles tun, um uns daran zu erinnern und es nie wieder zuzulassen.“