Können französische Atomwaffen ganz Europa schützen?

Präsident Emmanuel Macron will mit den europäischen Partnern darüber beraten, den französischen nuklearen Schutzschirm möglicherweise auf weitere Länder auszuweiten. Seit dem Brexit ist Frankreich mit seiner über etwa 290 Atomsprengköpfe verfügenden 'Force de frappe' die einzige Atommacht in der EU. Europas Presse debattiert.

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Espreso (UA) /

Der Kreml ist offenbar besorgt

Diese Abschreckung könnte sich durchaus als wirksam erweisen, meint der Energie- und Sicherheitsexperte Mychajlo Hontschar in einem von Espreso übernommenen Facebook-Post:

„Die nervöse Reaktion Moskaus auf die Äußerungen des französischen Präsidenten Macron über die Absichten von Paris, Europa einen nuklearen Schutzschirm bereitzustellen, lässt darauf schließen, dass der Kreml besorgt ist. ... Offenbar glaubte man in Moskau, Macron würde alles Mögliche sagen, aber wohl kaum etwas unternehmen, geschweige denn mit dem Atom-Säbel rasseln. Natürlich ist Frankreichs Nuklearpotenzial um ein gerüttelt Maß geringer als das Russlands, aber es würde völlig ausreichen, um den europäischen Teil von Mordor [abwertend für Russland] vollständig zu zerstören.“

Rzeczpospolita (PL) /

Misstrauen mit Kernwaffen überwinden

Rzeczpospolita prescht mit einem kühnen Vorschlag vor:

„Für jede Regierung in Warschau wäre eine Konstellation, in der Deutschland über Atomwaffen verfügt und Polen nicht, inakzeptabel. Diese Haltung zeigt sich auch in der Reaktion Tusks auf den Vorschlag Emmanuel Macrons, die französischen Nukleargarantien auf unser Land auszudehnen: Als Merz um Gespräche zu diesem Thema ersuchte, tat dies auch der polnische Ministerpräsident. ... Tusk hat sich nicht dazu geäußert, wie seine Vision von polnischen Atomwaffen aussieht. Eine Möglichkeit wäre, die Vorgehensweise in dieser Hinsicht mit Deutschland zu koordinieren. Oder sogar der Bau einer gemeinsamen polnisch-deutschen Atomwaffe. Dies würde die Aussöhnung zwischen unseren Nationen vollenden.“

El País (ES) /

Es wird Jahre dauern, um den Bedarf zu decken

El País sieht nicht mehr als gute Vorsätze:

„Es liegt auf der Hand, dass eine strategische Autonomie in den genannten vier Jahren unerreichbar ist; die Abhängigkeit von anderen wird unvermeidlich bleiben. ... Und zwar unabhängig davon, ob Macron letztlich beschließt, die nukleare Reichweite seiner Force de frappe auf die übrigen EU-Staaten auszudehnen, oder ob Polen sich offen für nukleare Waffen entscheidet. Selbst wenn die EU-27 einstimmig bereit wäre, auf jede Bedrohung durch Russland oder andere zu reagieren, gibt es keine europäische Verteidigungsindustrie (wir haben nationale Branchen). ... Die existenten Unternehmen werden Jahre brauchen, um den Bedarf der Armeen zu decken. ... Selbst im günstigsten Fall ist es der EU nicht möglich, die USA militärisch zu ersetzen.“

The Conversation (FR) /

Glaubwürdige Abschreckung

Nuklearexperte Benoît Grémare erklärt in The Conversation:

„Macron zufolge könnte Frankreich als Reaktion in den osteuropäischen Ländern Atomwaffen stationieren und auf diese Weise die USA ersetzen. Dieser nukleare Schutzschirm Frankreichs würde die strategische Autonomie Europas durch die Stationierung von Kampfjets mit Atomwaffen verwirklichen. Dies wäre ein Zeichen für die politische Solidarität in Europa und würde Moskaus Kalküle erschweren. Die sichtbare Präsenz dieser Flugzeuge in Osteuropa könnte Russland davon abhalten, die dortigen Länder mit konventionellen Mitteln anzugreifen, da ein solcher Angriff eine nukleare Reaktion Frankreichs im Namen Europas auslösen könnte.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Wichtiges Signal an Moskau und Washington

Die Süddeutsche Zeitung findet die Diskussion richtig und wichtig:

„Klar ist: Einen schnellen und vollwertigen Ersatz für den US-Schirm wird es keinesfalls geben. Zumal das französische Angebot zahllose komplexe technische und politische Fragen aufwirft – und sich nach einer Wahl von Marine Le Pen zur Präsidentin in Luft auflösen würde. In dieser gefährlichen Zeit wäre der schlimmste Eindruck aber der, dass Europa in Schockstarre verfällt. Die gemeinsame Initiative von Merz und Macron ist daher ein notwendiges Signal – übrigens sowohl nach Moskau wie nach Washington.“

Aftonbladet (SE) /

Ein Schritt nach dem anderen

Aftonbladet hält die Überlegungen für verfrüht:

„Die USA haben die Nato nicht verlassen. Aus Europa sind keine US-Truppen abgezogen worden. Ob das passieren wird, wissen wir nicht. ... Unser wichtigstes Kapital wird auch in Zukunft Soft Power sein – schützen wir sie. Sicher: Soft Power hat ihre Grenzen. Deshalb ist die Wiederbewaffnung, die derzeit auf unserem Kontinent stattfindet, ganz entscheidend. Solange die USA Mitglied der Nato und bereit sind, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sollte es sich bei der Wiederbewaffnung um konventionelle Streitkräfte handeln. Sollten die USA die Nato verlassen oder in Bezug auf Artikel 5 wankelmütig werden, verändert sich die Lage. Aber so weit sind wir – noch – nicht.“