Anschläge erschüttern Türkei
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage nehmen Terroristen die Türkei ins Visier: In einer Fußgängerzone Istanbuls sprengte sich am Samstag ein Attentäter in die Luft und riss mindestens vier Menschen mit in den Tod. Laut Ankara soll er IS-Anhänger gewesen sein. Wie kann die Türkei befriedet werden?
Arbeiten Ankaras Geheimdienste überhaupt noch?
Die zahlreichen Terroranschläge in der Türkei - insbesondere durch die Terrororganisation IS - legen nahe, dass die türkischen Geheimdienste nicht richtig arbeiten, erklärt die kemalistische regierungskritische Tageszeitung Sözcü:
„Der nationale Geheimdienst MIT hat immer mal wieder Schwächen gezeigt. ... Doch jetzt fragen wir uns: warum verfolgt er diese Personen nicht? Arbeitet er nicht? Natürlich arbeitet die Organisation, aber über ihr liegt mittlerweile der Schatten der Politik. Die Personen an der Spitze des MIT sind Politiker, Mitglieder der Regierungspartei! So eine Situation hat der MIT in seiner Geschichte noch nicht erlebt. ... Wenn wir von einer Schwäche des Geheimdienstes reden, müssen wir beachten, dass nicht nur der MIT diese Aktivitäten betreibt, sondern auch Polizei, Gendarmerie und Generalstab ihre Geheimdienste haben. Dem Namen nach existieren sie, aber gibt es sie überhaupt noch?“
Anschläge verurteilen - egal wer sie verübt
Den Anschlag von Ankara hatte die Terrororganisation Kurdische Freiheitsfalken verübt, für das Istanbuler Attentat macht die Regierung die IS-Miliz verantwortlich. Das türkische Volk sollte gegen jede Art von Terror auf die Straße gehen, appelliert die konservative Tageszeitung Milliyet:
„Letztlich ist es egal ob die PKK oder der IS die Tat verübt hat, denn egal was ihre Ziele sind, bei jedem Anschlag sterben unschuldige Zivilisten, Kinder. ... Wir sehen die Wirkung des Anschlags auf der Istiklal-Straße in Istanbul und die Spannungen rund um das [heutige kurdische Neujahrsfest] Newroz: Die Straßen und Einkaufszentren, auf denen täglich Millionen von Menschen entlanggehen, waren leergefegt. Aus dieser Spirale muss man ausbrechen. Der einzige Weg dahin ist, dass jeder erkennt, egal welcher politischer Ansicht oder welchen Glaubens, dass dieser Angriff der Türkei gilt. Und dass jeder ohne Wenn und Aber den Terror verurteilt und alle gemeinsam reagieren. So wie es in Frankreich der Fall war.“
Ankara erhält nun die Quittung
Der jüngste Anschlag in Istanbul, den die türkische Regierung der Terrororganisation Islamischer Staat zuschreibt, ist die Konsequenz der Politik Ankaras in der Region, meint der linksliberale Tages-Anzeiger:
„Die Türkei wird von Fanatikern des Islamischen Staates und von kurdischen Extremisten bedroht. Die Gefahr wird grösser, dass der Konflikt mit den Kurden und der Krieg in Syrien auch in den Westen der Türkei getragen werden. Jetzt muss Ankara einen Zweifrontenkrieg führen, weil der autoritäre Staatschef Recep Tayyip Erdoğan ohne Not den Friedensprozess mit den Kurden aufgekündigt und jahrelang zugelassen hat, dass sein Land zum Tummelplatz für IS-Terroristen wird. ... Die türkische Regierung hat viel zu spät erkannt, dass die Duldung der Terrormiliz fatale Folgen haben könnte, und ist eher widerwillig der internationalen Anti-IS-Koalition beigetreten. Erdoğan, der Möchtegern-Sultan, erhält nun die Rechnung für seine Strategie.“
Autoritäre Türkei steht am Abgrund
Der türkische Präsident Erdoğan will nach dem jüngsten Anschlag in Ankara den Terrorismus-Begriff ausweiten und nimmt dabei auch Abgeordnete, Journalisten oder Leiter von NGOs ins Visier. Die konservative Tageszeitung Die Welt sieht die Türkei auf einem dunklen Pfad:
„Irgendwann muss man fragen, ob die 'autoritären Tendenzen', die westliche Politiker Erdoğan schon seit geraumer Zeit attestieren, nicht bereits abgeschlossen sind und in der Türkei nicht längst ein autoritäres, personenfixiertes Regime installiert ist. Außer beim Besitz der Atombombe unterscheidet die Türkei nicht mehr viel von Pakistan. Eine ganz andere Frage ist, ob es moralisch vertretbar und politisch klug ist, sich in einem solchen Maße an dieses Regime auszuliefern, wie es die Bundesregierung gerade tut. ... Die Frage ist aber nicht, wie lange es sich noch halten kann, sondern wen und was es beim Auseinanderkrachen mit sich in den Abgrund ziehen wird - und welche Folgen dies für Deutschland und Europa haben wird.“
Gewalt erzeugt Gegengewalt
Als Reaktion auf das Attentat in Ankara hat das türkische Militär Stellungen der kurdischen PKK bombardiert. Zudem wurden prokurdische Intellektuelle festgenommen, und ein Parlamentsausschuss prüft die Aufhebung der Immunität kurdischer Politiker. Präsident Erdoğan sollte die Spirale der Gewalt besser durchbrechen, meint die liberale Tageszeitung Phileleftheros:
„Das einzige Mal, dass die Türkei sich sicher fühlte, war zur Zeit der Friedensgespräche mit den Kurden. Indem letztere hofften, dass sie einige ihrer Ziele erreichen können, wie zum Beispiel die Anerkennung ihrer Sprache, haben sie die Waffengewalt aufgegeben. Der Misserfolg der Verhandlungen brachte ein Wiederaufleben der Gewalt. Daher sind die Dinge einfach: Wenn Erdoğan den Frieden will, muss er mit den Kurden verhandeln. Ansonsten sollte er sich auf den nächsten Terroranschlag vorbereiten.“
Erdoğan muss nationale Einheit wiederherstellen
Der angeblich starke Staat, von dem der türkische Präsident Erdoğan gern spricht, kann die Bevölkerung nicht ausreichend schützen, kritisiert die linksliberale Frankfurter Rundschau nach dem erneuten Terroranschlag in Ankara:
„Das Land mit der zweitgrößten Armee der Nato erscheint im Innern hilflos. Erdoğan hat Polizei, Militär und Geheimdienste in einen Dreifrontenkrieg gehetzt, der sie überfordert: gegen die kurdische PKK, den Islamischen Staat und die islamische Gülen-Bewegung. ... Nötig wäre es, den Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften neu zu starten, auf nationale Einheit zu setzen und mit demokratischen Reformen den Weg in die EU zu festigen. Sonst läuft die Türkei Gefahr, von einem Hort der Stabilität im Nahen Osten zu einem Problemfall zu werden. Europa braucht die Türkei nicht nur in der Flüchtlingskrise. Es sollte seinen Einfluss in Ankara geltend machen, um eine weitere Destabilisierung zu verhindern.“
Türken protestieren nicht einmal mehr
Die AKP-Regierung hat den Anschlag von Ankara scharf verurteilt und den Angehörigen ihr Beileid bekundet. Doch abgesehen davon werden wieder keine Konsequenzen gezogen, empört sich die kemalistische, regierungskritische Tageszeitung Sözcü:
„Mehr als das, hat die Regierung nicht zu bieten. Und die Oppositionsparteien sind Allah anvertraut. Ihnen fällt nicht einmal ein, die Gesellschaft auf die Straße zu bringen, ihr demokratisches Recht zum Protest zu nutzen und sich zu organisieren. In verschiedenen Ländern der Welt geschehen Terrorattentate. Die Menschen dieser Länder strömen auf die Straßen, um gegen den Terror zu protestieren. ... Doch wer wird sich bei uns organisieren und auf die Straße gehen? ... Jeder verfolgt nur seine eigenen Interessen. Es wird nur gejammert und verdammt, aber nicht abgerechnet. ... Die Angst- und Einschüchterungspolitik der Regierung war erfolgreich. Die Menschen haben Angst.“
Erdoğan bringt weder Stabilität noch Frieden
Präsident Erdoğan trägt eine Mitschuld am Terror in seinem Land, ist Kolumnist Hasan Cemal in der liberalen Internetzeitung T24 überzeugt:
„Erdoğan ist ein Despot. Mit ihm sind weder Stabilität noch Frieden möglich! Ob bei der Präsidentschaftswahl 2014, nach der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 oder als er bei den Neuwahlen am 1. November 2015 gar 50 Prozent der Stimmen erhielt, ich habe immer wieder betont: … Wer von Erdoğan Stabilität erwartet, betrügt sich selbst; mit Erdoğan wird sich bloß das Blutbad in unserer Heimat ausweiten - und genau das passiert gerade. Gestern Abend explodierte im Herzen Ankaras eine weitere Bombe. Ich verurteile diesen Terrorakt. Mit jeder Bombe, die explodiert, mit jedem Massaker, das geschieht, verfestigt sich meine Meinung. ... Erdoğan ist ein absolutes Fiasko.“
Waffen entschlossen gegen Terroristen einsetzen
Auch in der Elfenbeinküste kamen bei Anschlägen am Sonntag auf drei Hotels mehr als 20 Menschen ums Leben. Der Westen muss endlich mutiger gegen die Terroristen vorgehen, fordert die liberale Tageszeitung La Stampa eindringlich:
„Wir sind im Begriff den Krieg gegen den Terrorismus zu verlieren. ... Wir werden der Bedrohung niemals Herr werden, wenn wir neben den diplomatischen und politischen Bemühungen nicht auch militärische Maßnahmen ergreifen und zwar mit größerer Entschlossenheit und mit mehr Mut als bisher. ... Die Terroristen sind nicht gegen unsere Waffen gefeit, doch zögern wir diese einzusetzen oder dosieren ihren Einsatz. Die gestrigen Attentate sind fern von Italien und Europa. Dank der Entfernung können wir uns in Sicherheit zu wähnen. Wir werden auf Reisen verzichten oder Feriendörfer in exotischen Gebieten schließen. Doch machen wir uns nichts vor: So rückt der Terrorismus weiter vor, während wir, Europa und die zivilisierte Welt, zum Rückzug blasen.“
Mehr Meinungen