EU und Erdoğan streiten über Visafreiheit
Das EU-Parlament will erst über die Visaliberalisierung für Türken beraten, wenn Ankara alle Bedingungen erfüllt hat. Der türkische Präsident Erdoğan lehnt bislang die Änderung der Anti-Terror-Gesetze ab, die nach Auffassung Brüssels gegen europäische rechtsstaatliche Normen verstoßen. Muss Europa gegenüber Erdoğan hart bleiben?
Beide Seiten haben viel zu verlieren
Die EU und die Türkei riskieren, ihren Streit über Visa und das Flüchtlingsabkommen zu weit zu treiben, klagt Hospodářské noviny:
„Der türkische Präsident fühlt sich stark genug, um einen Nachlass bei den 72 Bedingungen für die Visafreiheit zu verlangen. Aber Berlin muss bei allem Entgegenkommen Rücksicht auf das Europaparlament nehmen. Das hat vergangene Woche bekräftigt, dass 72 Bedingungen nun einmal 72 Bedingungen sind. Wenn die mit allen Nachbarn zerstrittene Türkei irgendwo Verbündete findet, dann in Europa, wo die Touristen herkommen und wohin sie ihre Waren verkauft. Am Krieg der Worte sind nicht nur Erdoğan und die EU beteiligt, sondern auch solche, die keinerlei Interesse an einer allgemein annehmbaren Lösung der Migrationskrise haben. Darunter auch die, die mit Genugtuung verfolgen, wie das Thema Flüchtlinge die europäischen Staaten innerlich zerreißt.“
Erdoğan droht der EU aus Angst
Präsident Erdoğan droht der EU, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, sollte sie weiter auf einer Änderung der Anti-Terror-Gesetze bestehen. Le Figaro sieht in ihm einen Mann, der aus Furcht um sich schlägt:
„Erdoğan hat sich in eine Flucht nach vorn gestürzt, um seine immer einsamere und autoritärere Macht zu festigen. Er macht die Presse mundtot, unterbindet jede Form von Kritik, stopft die Gefängnisse voll, schaltet seine Rivalen aus, bekämpft erbarmungslos die kurdischen Separatisten, mit denen er vor kurzem noch verhandelt hat. Das Wirtschaftswachstum bietet ihm keine Stütze mehr, die Lage in Syrien entgleitet ihm. … Erdoğan verhält sich wie jemand, der in Bedrängnis geraten ist. Der türkische Herrscher wird von Angst beherrscht. Dies erklärt auch seine Erpressung gegenüber der EU, der er mit einer neuen Flüchtlingswelle droht. Die Europäer sollten sich auf eine neue Härte gefasst machen, die zeigt, dass niemand außer ihnen selbst die Verantwortung für die Sicherung ihrer Grenzen übernehmen kann.“
Visaliberalisierung ist keine Gefahr für Europa
Warum die EU türkischen Staatsbürgern Visafreihet gewähren sollte, erklärt die Tageszeitung Népszabadság:
„Werden türkische Wirtschaftsmigranten massenweise nach Europa strömen? Sie sind auch bisher gekommen, wobei sie entweder eine Arbeitserlaubnis bekamen oder in der Schattenwirtschaft untertauchten. Einige kehrten allerdings auch heim, weil sie zu Hause besser verdienen. ... Die Möglichkeit des freien Reisens stärkt nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die bürgerlichen Werte. Ein bedeutender Teil der Türken betrachtet sich selbst als Teil des Westens mit säkularen Werten, denen jedweder Fanatismus fremd ist. Sie wollen schlicht die Welt erkunden und werden mitnichten die Burg von Buda einnehmen, wie es ihre [osmanischen] Vorfahren 1541 taten. Falls die Visafreiheit scheitern würde, wäre dies eine Konzession an die nationalistischen antiwestlichen und demokratiefeindlichen Kräfte in der Türkei.“
Erdoğan will gar keine gute Beziehung zur EU
Das Verhalten der Türkei gefährdet den Deal mit der EU, fürchtet die Internetzeitung T24:
„Es gibt hier 2,5 Millionen Migranten, was wird Ankara jetzt tun? Visafreiheit gegen Flüchtlinge einzutauschen, war eigentlich ein guter Deal, doch jetzt droht dieser an Wert zu verlieren. Solange er aufgeschoben wird, sich gar zu einer Bedrohung wandelt, verliert der Deal seinen Zauber. … Die Beziehungen zur EU könnten noch angespannter werden. Mit einem Nachbarn nach dem anderen haben wir bereits Streit geführt. Doch jetzt gibt es in unserer Umgebung niemanden mehr, mit dem wir uns nicht gestritten haben. Die Beziehungen zur EU hängen am seidenen Faden. Wer weiß, vielleicht hat da jemand den Wunsch, abgeschnitten von den Nachbarn und besonders vom Westen zu sein. Vielleicht ist es der Traum von jemandem, eine in sich verschlossene und allein gelassene Türkei zu führen.“
Es geht um die Türken, nicht um Erdoğan
Das EU-Parlament sollte bei seiner Entscheidung über die Visafreiheit für Türken nicht nur Erdoğans Politik im Blick haben, fordert die Frankfurter Rundschau:
„Eins sollte bei der Beurteilung der Lage nicht vergessen werden: Es geht um Menschen. Nicht nur um die Flüchtlinge, sondern auch um die Millionen Türken, eingebürgert oder nicht, die in den Ländern der EU leben, nicht zuletzt in Deutschland. Sie haben ein großes Interesse daran, dass ihre Verwandten sie endlich ohne Probleme besuchen können. Auch ökonomisch wäre es ein Gewinn, die Grenze durchlässiger zu machen. Mit anderen Worten: Drohgebärden sind das eine. Aber sie dürfen eine vernünftige Politik im Interesse der Menschen nicht verhindern - so schwer es auch sein mag, sie zu bewerkstelligen.“
Gefährlichen Flirt mit Ankara beenden
Duma lobt hingegen das EU-Parlament für seine Härte gegenüber Erdoğan:
„Dieselbe Logik passt leider nicht in die Beamtenköpfe der EU-Kommission, die letzte Woche grünes Licht für die Visafreiheit gegeben haben. Im Einklang mit Merkels Politik flirtet Brüssel mit Ankara, indem es sich auf absurde und abenteuerliche Deals einlässt, obwohl klar ist, dass der Flüchtlings-Tsunami dadurch nicht aufzuhalten ist. … Währenddessen erdreistet sich der Autokrat Erdoğan, Europa Demokratieverletzungen vorzuwerfen, führt einen regelrechten Krieg in der Südost-Türkei und versucht sich sein eigenes maßgeschneidertes Präsidialsystem einzurichten. … Es ist höchste Zeit, dass die EU-Regierungschefs aufwachen und sich bewusst werden über die Risiken, die sie mit der Türkei eingehen. Sie müssen endlich aufhören sich hinter kurzfristigen Lösungen zu verstecken und echte Lösungen finden.“
Erdoğan ist im Westen isoliert
Erdoğan hat gegenüber der EU den Bogen überspannt, weil ihn niemand mehr ehrlich berät, glaubt die liberale englischsprachige Tageszeitung Hürriyet Daily News:
„Indem er den Westen attackierte, hat sich Erdoğan international selbst isoliert. Er hat im Westen keine Freunde mehr, die ihm gute Ratschläge geben könnten. Weil er im In- wie im Ausland keine vernünftigen Einschätzungen über seine europäischen Gesprächspartner bekommt, könnte er zu hoch pokern und sein Konfrontationskurs zu noch mehr Zusammenstößen mit Europa führen. Wenn es also um die konkreteste Frage der aktuellen Tagesordnung geht, nämlich ob der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal halten und zur Visafreiheit für Türken führen wird, scheint die Wahrscheinlichkeit fifty-fifty.“
Athen ist Ankara ausgeliefert
Sollte der Flüchtlingsdeal platzen, würde Griechenland die Hauptlast tragen, erinnert das Onlineportal Reporter:
„Man bemerkt bereits eine Schwäche der griechischen Verwaltung, die vergleichsweise wenigen Flüchtlinge zu versorgen, die jetzt im Land sind. Da unsere Grenzen geschlossen sind, werden die Flüchtlinge, die wieder mit den Booten ankommen, in Griechenland bleiben. Die Nato-Präsenz in der Ägäis hat zwar eine abschreckende Wirkung, wie auch die Schließung der Grenzen im Norden Griechenlands, ob die Flüchtlinge aber in der Türkei bleiben oder in Richtung Griechenland ablegen, hängt weitgehend davon ab, was die türkische Regierung entscheidet. Und die griechische Seite hat keinen Plan, um mit dieser Situation fertig zu werden.“
Europa braucht einen Plan B
Es ist für die EU höchst riskant, in der Flüchtlingsfrage allein auf den türkischen Präsidenten Erdoğan zu setzen, warnt Jutarnji list:
„Das Verhalten der Türkei ist unberechenbar und auch die EU wird ihre Versprechen gegenüber der Türkei alles andere als problemlos einhalten können. Es wird nicht einfach sein, die nötige Unterstützung des Europäischen Parlaments für die Visafreiheit zu erhalten. Und man kann leicht erahnen, wie Erdoğan reagieren wird, wenn man ihm vorhält, er habe nicht alle Bedingungen erfüllt. Er hat ja schon angekündigt, dass er gar nicht daran denkt, vor allem will er nicht seine Anti-Terror-Gesetze ändern. ... Deshalb braucht die EU einen Plan B. Denn wenn am 30. Juni die Visafreiheit nicht eingeführt ist, wird Erdoğan schon am nächsten Tag eine neue Flüchtlingswelle von der Türkei aus über die europäische Grenze schwappen lassen.“
Türken wollen unbedingt in die EU
Anlässlich des Europa-Tages hat Recep Tayyip Erdoğan betont, dass die EU-Mitgliedschaft oberste Priorität für Ankara habe. Da täte er gut daran, nach seinen harten Worten gegen die EU die Wogen zu glätten, mahnt die Zeitung Milliyet:
„Die Belebung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU scheint die türkische Öffentlichkeit positiv beeinflusst zu haben. Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen 75,5 Prozent der Befragten eine EU-Mitgliedschaft - im Vergleich zu 61 Prozent im Vorjahr. 64,4 Prozent glauben allerdings auch, dass diese nicht verwirklicht wird. Trotzdem wünscht ein breiter Teil der Gesellschaft weiterhin einen EU-Beitritt und verspricht sich davon wirtschaftlichen Wohlstand, die Reisefreiheit in Europa oder demokratische Rechte und Freiheiten. Das sollten besonders die Regierungsvertreter beachten und noch größere Anstrengungen unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen.“
Brüssel ist ein unzuverlässiger Partner
Europa wird die Visafreiheit für Türken nicht zulassen, zeigt sich die Beraterin im Stab des Präsidenten, Saadet Oruç, in einem Gastbeitrag in der regierungstreuen Tageszeitung Daily Sabah ernüchtert:
„Viele EU-Beamte glauben, dass eine Welle von Türken die Straßen der europäischen Länder fluten wird, wenn die Visapflicht aufgehoben wird. Doch diese Angst gibt es eher wegen der europäischen Medien, die Angst verbreiten, und weniger wegen der Absichten der türkischen Bürger. ... Während die Türkei für Brüssel bezüglich des Flüchtlingsstroms ihr Bestes getan hat, versucht Europa alles, um seine Versprechen nicht einzuhalten. … Es ist schwer zu glauben, dass Europa türkischen Bürgern das Reisen ohne Visum ermöglichen wird. ... Zuallererst sollte Europa seine psychologische Blockade gegenüber anderen Identitäten aufheben, bevor es Ausreden für seine Unzuverlässlichkeit findet. Das ist wichtiger als jeder von der Realpolitik ausgehandelte Deal.“
Entscheidung zwischen Interessen und Werten
Erdoğans Statement ist kein Pokerspiel, mahnt die Tageszeitung Hürriyet Daily News:
„Die kühne Erklärung Erdoğans, die Türkei würde ihre Anti-Terrorgesetze nicht zum Zwecke eines Visa-Deals ändern, sollte von Europa sehr ernst genommen werden. Die noch kühnere Aussage 'wir werden unseren Weg gehen, geht ihr euren' muss sogar noch ernster genommen werden. Letztlich ist Erdoğan ein Mann, der zu seinem Wort steht, und wenn er sagt, er wird den Deal auf den Müll werfen, wenn seine Konditionen nicht erfüllt werden, dann wird er das sicher tun. Ist Europa bereit für eine neue Flut von syrischen, irakischen, asiatischen und afrikanischen Flüchtlingen? Was kommt zuerst für Europa, seine Interessen oder Normen und Werte? Europa muss sich entscheiden.“
Riskanter Flüchtlingsdeal könnte platzen
Auch für De Volkskrant stehen die Vereinbarungen mit Ankara auf der Kippe:
„Schön war [der Flüchtlingsdeal] nie, aber es sprach einiges dafür: Praktische Gründe, weil die EU-Mitgliedsstaaten mit ihren eigenen Außengrenzen definitiv überfordert waren. Und strategische Gründe, weil Europa viel daran liegt, die Türkei als muslimisches Grenzland zu behalten und es nicht zu einem instabilen, potentiell gewalttätigen Außenposten des Nahen Ostens degenerieren zu lassen. Doch leider erfolgte dieser Schritt aus einer Position der Ohnmacht heraus, als Europa das Wasser bis zum Hals stand. Daher erwies sich der Deal mit der Türkei von Anfang an weniger als reife Diplomatie denn als Panikreaktion. Machtpolitik ist nicht gleichbedeutend damit, Prinzipien über Bord zu werfen. Denn wenn man Pech hat, steht man nach dem Kampf schwer beschädigt da: Ohne Prinzipien und ohne Ergebnisse.“