Können Russland und die USA Syrien befrieden?
Die seit einer knappen Woche geltende Waffenruhe in Syrien droht zu scheitern. Laut Beobachtern nehmen die Kämpfe um Aleppo wieder zu. Bei einem nach eigener Aussage versehentlichen Angriff der US-Luftwaffe auf syrische Regierungstruppen starben Dutzende Soldaten, hunderttausende Zivilisten sind noch ohne Hilfe. Kommentatoren hegen Zweifel, ob Moskau und Washington überhaupt in der Lage sind, die Kriegsparteien im Zaum zu halten.
Einfluss der Großmächte nicht überschätzen
Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass die von den Washington und Moskau ausgehandelte Feuerpause in Syrien allein aufgrund der Macht beider Staaten halten wird, gibt The Independent zu bedenken:
„Es ist noch nicht klar, wie sehr die USA und Russland in der Lage sind, ihre jeweiligen Verbündeten in Einklang zu bringen und wie sehr sie sich dabei zurückhalten müssen. Die USA können durch ihre auswärtigen Alliierten wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar auf die syrischen Rebellen Druck ausüben, die Waffenruhe einzuhalten. Aber wird dieser Druck stark genug sein? In weniger als zwei Monaten steht die US-Präsidentschaftswahl an, die einen neuen Bewohner des Weißen Hauses hervorbringen wird, der möglicherweise eine neue Syrien-Strategie vertritt. ... Es ist auch in Russlands Interesse, dass das Abkommen funktioniert. Aber Russland hat Schwierigkeiten damit, Präsident Baschar al-Assad zu kontrollieren, obwohl dieser auf die militärische Hilfe des Landes angewiesen ist.“
Erstmals besteht Hoffnung auf Frieden
Da erstmals auch Washington eine klare Stellung gegen die Miliz Dschabhat Fatah al-Scham - die einstige al-Nusra-Front - bezogen hat, kann es diesmal wirklich zu einer Einigung der Kriegsparteien kommen, glaubt Corriere della Sera:
„Die 'Waffenruhe von Aleppo' wird - hoffentlich - in die Geschichte eingehen, nicht nur weil die Hilfslieferungen zu den Überlebenden in der Stadt gelangen werden, sondern auch auf Grund ihres politischen Charakters. US-Außenminister Kerry hat angekündigt, dass die USA künftigen Luftangriffen der Regierungstruppen von Assad gegen die Dschihadisten zustimmen werden. Damit hat er de facto eine Wende in der bisherigen Politik von Obama eingeläutet. ... Wenn die Waffenruhe hält und die absehbaren Sabotagen der Rebellen überwindet, könnte die Feuerpause dieser Tage zu einer Einigung zwischen Russland und Amerika führen, die die Stabilität in der Region wiederherstellen könnte.“
Paradoxe Annäherung zwischen Großmächten
Hochrangige US-Offiziere haben Vorbehalte geäußert gegenüber der von John Kerry und Sergej Lawrow beschlossenen militärischen Kooperation gegen den IS und die ehemalige al-Nusra-Front. Für Le Point sind diese Bedenken angesichts der historischen Gegnerschaft verständlich:
„Es handelt sich um eine seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beispiellose Geschichte der Zusammenarbeit zwischen den Generalstäben beider Länder. 70 Jahre lang waren sie stets Feinde oder zumindest Gegner. Die beiden Armeen haben nie aufgehört, sich bei der Überwachung, der Bewaffnung, der Suche nach verwundbaren Stellen beim jeweils anderen und bei der Vorbereitung eventueller Angriffspläne zu übertrumpfen. … Das Paradoxe ist, dass die aktuelle Annäherung zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem die beiden Länder sich in Osteuropa - vom Balkan bis zur Ukraine - direkt oder indirekt gegenüberstehen.“
Feuerpause mit Hintergedanken
Der plötzliche Waffenstillstand in Syrien kommt sehr überraschend und scheint ein Vorwand für andere Ziele zu sein, urteilt Kolumnist Faruk Aksoy in der islamisch-konservativen Tageszeitung Yeni Şafak:
„Was hat sich in Syrien geändert, dass sich USA und Russland auf einen Waffenstillstand geeinigt haben? Die Gottlosen opferten fünf Jahre lang das syrische Volk und lassen sich jetzt vom [muslimischen] Opferfest beeinflussen, um einen Waffenstillstand auszurufen? ... Der Waffenstillstand ist ein Spiel derer, die den Krieg in Syrien nicht beenden, sondern in die Länge ziehen wollen. Wer dies aus welchen Gründen will, weiß ich nicht. Doch die Türkei sollte das Feuer nicht einstellen, bis sie ihre Ziele nicht erreicht hat.“
Wichtigste Frage weiterhin ungeklärt
Der Waffenstillstand hat Syrien dem Frieden keinen Schritt näher gebracht, weil ein Thema noch immer ausgeklammert wird, bedauert Aamulehti:
„Wie soll es nun weitergehen, damit der Albtraum endet und das vom Krieg misshandelte Land zur Normalität zurückkehren kann? … Viele Beobachter im Westen glauben, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Schlüssel für den Frieden in der Hand hält. … Russland hat sich nicht aus humanitären Gründen in den Syrienkrieg eingemischt, sondern um seine Stellung im Nahen Osten auszubauen. Es ist daher anzunehmen, dass Russland an der Regierung Assads solange festhalten wird, wie es keine bessere Alternative gibt, um Syrien als Verbündeten in dieser strategisch wichtigen Region zu steuern. Im Hinblick auf den Frieden in Syrien ist Assads Schicksal die entscheidende Frage, die trotz der willkommenen Annäherung zwischen den USA und Russland ungeklärt bleibt.“
Türkei und USA müssen kooperieren
Trotz aller Differenzen zwischen den USA und der Türkei sollte der Waffenstillstand in Syrien als Chance betrachtet werden, mahnt Hürriyet Daily News:
„Es ist kein Geheimnis, dass sich die Türkei und die USA noch immer uneins über einige Themen bezüglich der zukünftigen Rolle der PYD im Kampf gegen den IS sind. Doch jetzt ist nicht die Zeit, dass die Verbündeten ihre Energie darauf verwenden, verzweifelt den anderen von ihrer Sicht auf die Gruppe zu überzeugen. Denn der Waffenstillstand eröffnet für alle Seiten eine wichtige Chance. Wenn es den USA und Russland gelingt, eine gemeinsame Operationszentrale [Joint Implementation Center - JIC] einzurichten, um den Kampf gegen die IS-Miliz und Jabhat Fatah al-Sham (früher bekannt als al-Nusra-Front) zu koordinieren, könnte die Türkei dazu viel beitragen. ... Zusammengefasst müssen die Türkei und die USA einen Weg finden, dieses Chaos in eine neue Chance zu verwandeln, um Dschihadisten zu bekämpfen und ihre Differenzen zu überwinden.“
Zerfall Syriens nicht mehr abzuwenden
Die USA und Russland könnten in Syrien nun etwas durchsetzen, was die Regierung und ihre Gegner bisher immer ablehnten, meint die Leiterin des Beiruter Büros von The New York Times, Anne Barnard:
„In dieser derzeitigen Blitzschach-Partie nehmen die Umrisse einer informellen Spaltung Syriens in Einflusssphären Form an: eine von der Türkei gesponserte Rebellenenklave im Norden, die Kurden im Nordosten, die iranisch-russisch unterstützte Regierung in Damaskus und an der Küste, sowie schließlich große Streifen im Grenzgebiet zum Libanon, welche von der Hizbollah kontrolliert werden. Das einzige, wo sich die Regierung und ihre Gegner immer einig gewesen sind, ist die Ablehnung einer Teilung Syriens. Ihre ausländischen Unterstützer mit eigenen Interessen aber könnten auf eine de-facto Teilung des Landes bestehen.“
Spaltung wäre Sicherheitsrisiko für Türkei
Die Verbündeten müssen alles unternehmen, um eine Spaltung Syriens zu verhindern, mahnt die regierungsnahe Tageszeitung Akşam:
„Entscheidend ist die Sicherheit der Türkei und der Schutz der territorialen Einheit Syriens und des Irak. Deshalb muss die Grenzregion vom Terror und Terrororganisationen gesäubert werden, damit die Grenze zu Syrien permanent ein sicheres Gebiet wird. Dafür ist das Gebiet zwischen Al-Bab und Manbidsch sehr wichtig. Darüber hinaus gibt es den Vorschlag der USA zu einer Operation in Richtung Rakka. Aus türkischer Sicht ist dies nur sinnvoll und realistisch, wenn sich die USA nicht nur mit einer angeblichen Unterstützung beteiligen, sondern auch Bodentruppen stellen und diese unter gemeinsamer Führung agieren.“
Moskau und Washington verbindet die Einsicht
Die russisch-amerikanische Zusammenarbeit in Syrien könnte erfolgreich sein, meint Adevărul:
„Gerade jetzt, wo die Spannungen zwischen den USA und Russland zu einem offenen Konflikt auszuufern drohten, kommt überraschend die Botschaft, dass beide an einem gemeinsamen Plan arbeiten. ... Beiden Akteuren ist klar geworden, dass sie nicht bis ins Unendliche eine Landkarte verwalten können, auf der die Konflikte immer willkürlicher und immer häufiger werden, so dass am Ende beide Supermächte die Kontrolle über die Situation verlieren könnten. Ist dieses Abkommen ein Zeichen für eine bilaterale Einsicht (sie ähnelt der Logik in Zeiten des Kalten Krieges), die sich auch in anderen Konfliktregionen fortsetzen kann? … Vielleicht ja, wenn man sich die sofortige enthusiastische Reaktion der Uno ansieht, die die Umsetzung des Abkommens überwachen könnte. Es wäre auch eine Art Existenzberechtigung für die Uno, die auf internationaler Ebene so umstritten ist.“
Retro-Strategie hilft in Syrien nicht weiter
Der Konflikt in Syrien ist zu vielschichtig, als dass Washington und Moskau ein Ende der Kämpfe diktieren könnten, meint der Guardian:
„Dass der Friedensplan von den USA und Russland unterzeichnet wurde, ist noch keine Erfolgsgarantie. Fast 25 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion hat ein russisch-amerikanisches Abkommen zu einem Drittstaat etwas eindeutig Altmodisches an sich. Der syrische Bürgerkrieg mag sich zu einem größeren Krieg ausgeweitet haben. Doch es gibt viel mehr Akteure und Stellvertreter, die um Kriegsbeute ringen, als das in irgendeiner Auseinandersetzung im Kalten Krieg der Fall war. Washington und Moskau können nicht länger mit den Fingern schnippen und das Ende von Feindseligkeiten anordnen. ... Wie groß der Einfluss Russlands auf das Assad-Regime tatsächlich ist, ist fraglich. Das Gleiche gilt für den Einfluss der USA auf den Nato-Verbündeten Türkei, ganz zu schweigen von den verschiedenen bewaffneten Gruppierungen, die vom Westen unterstützt werden.“
Assads Taktik scheint aufzugehen
Als einen Etappensieg für Baschar al-Assad sieht die Neue Zürcher Zeitung den Waffenstillstand:
„Mit keinem Wort erwähnt die Vereinbarung die Forderung nach seinem Rücktritt. Die Taktik des Machthabers scheint aufzugehen. Mit Belagerungen und Bombardierungen hat er Rebellenhochburgen in die Knie gezwungen, das Völkerrecht mit Füssen getreten und massgeblich zur Radikalisierung des Aufstands beigetragen. Dass sich die Amerikaner anscheinend damit abgefunden haben, dass Assad im Amt bleibt, ist vor allem für viele demokratische Aktivisten bitter - und es ist ein Armutszeugnis für Amerika. Russland hat mit der Vereinbarung erreicht, dass sich die Amerikaner auf den gemeinsamen Kampf gegen den syrischen Kaida-Ableger verpflichten. Aber was passiert, wenn sich die Rebellen von den gemeinsamen Frontlinien mit der Jabhat Fatah al-Sham zurückziehen? Sehen die Amerikaner dann zu, wie Assads Truppen in das Vakuum vorstossen?“
Das Muffensausen der Großmächte
Die Großmächte sind um den Frieden bemüht, weil sie fürchten, dass der Krieg außer Kontrolle gerät, analysiert Il Sole 24 Ore:
„Im Nahen Osten sind die USA in ihre eigenen Widersprüche verwickelt. Sie nutzen die Kurden gegen die IS-Miliz, während die Türkei, Nato-Mitglied fast der ersten Stunde, sie bekämpft. Die Saudis, engste Partner von Washington, haben in den acht Jahren der Präsidentschaft Obamas Waffen für 100 Milliarden Dollar gekauft. Doch gelingt es ihnen weder, den Stellvertreterkrieg in Syrien noch den Krieg im Jemen zu gewinnen. Stattdessen bedrohen sie nun den Iran. ... Die Iraner sind aber mit ihrer Unterstützung der schiitischen Regierung in Bagdad gegen das Kalifat auch Verbündete der USA. ... Putin wiederum ist sich bewusst, dass Assad - wie auch Erdoğan - kein sonderlich zuverlässiger Verbündeter ist, und dass die Iraner sich nichts von Moskau sagen lassen. Putin will nicht, dass Syrien zum zweiten Afghanistan für Russland wird. Er kann sich das wirtschaftlich nicht leisten und will sich auch nicht in der Wüste von Rakka herumschlagen.“
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