Führt die Türkei die Todesstrafe wieder ein?
Der türkische Staatschef Erdoğan will das Parlament über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen lassen. Er sagte am Samstag, er sei überzeugt, dass die Abgeordneten dafür stimmen würden und kündigte an, ein entsprechendes Gesetz zu ratifizieren. Die Mehrheit der Kommentatoren übt scharfe Kritik an den Plänen, doch es gibt auch Stimmen, die erklären, dass dieser Schritt unausweichlich ist.
Türkei hat keine andere Wahl
Nach den traumatischen Erlebnissen des Putschversuchsvom 15. Juli ist die Wiedereinführung der Todesstrafe leider kaum mehr abzuwenden, erklärt Kolumnist Mehmet Ocaktan in der konservativen Tageszeitung Karar:
„Der Verrat vom 15. Juli hat in der Gesellschaft eine schreckliche Welle der Wut gegen die Putschisten ausgelöst. Es ist nicht leicht, diese Wut zu besänftigen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Regierung nichts tun kann, was den Willen des Volkes untergräbt. Daher unternimmt die Regierungspartei AKP jetzt Schritte, um den Forderungen des Volkes nachzukommen. ... Ich würde mich gerne an die Regierung wenden und ihr sagen, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe die Türkei in der Welt in eine schwierige Position bringen könnte und sie noch einmal darüber nachdenken sollte. Aber ich kann es nicht sagen, denn ich kann nicht vergessen, was in der Nacht des 15. Juli passiert ist und ich bin sicher, auch die Nation kann es nicht vergessen.“
EU-Beitritt ist Erdoğan inzwischen egal
Erdoğans neuerliche Reden über die Todesstrafe zeigen, dass es ihm längst nicht mehr ernst ist mit der EU-Mitgliedschaft, kommentiert Pravda:
„Erdoğans Ambitionen bestehen schon lange nicht mehr darin, in die EU aufgenommen zu werden. Sonst würde er jetzt nicht wieder mit der Todesstrafe kommen, die für Brüssel absolut unannehmbar ist. Der türkische Präsident führt sein Land in eine Diktatur. Deshalb mag er sich nicht nach den Menschenrechtsstandards richten, die auf dem alten Kontinent üblich sind. Sein Ziel ist die Erneuerung des Osmanischen Reichs, die er in die Realität umzusetzen beginnt. Der neuzeitliche Sultan will mit seinem Land zum Führer in der Region werden, will mit Iran um den Einfluss in der islamischen Welt streiten. Dazu braucht er die EU nicht.“
Politisch fatal für das Land
Sehr beunruhigt über die Auswirkungen einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Türkei zeigt sich Hürriyet:
„Manche in Ankara deuten an, dies sei nur eine Taktik. So würde es Erdoğan etwa die Stimmen der [ultrarechten] MHP garantieren, wenn er die Todesstrafe zum Teil einer vorübergehenden Verfassung hin zum Präsidialsystem macht. Beweisen lässt sich das nicht, doch selbst wenn man diese Taktik für notwendig hält, erweist sie sich als gefährliches Spiel und großer Fehler. Es würde in einer Region mit Brandherden wie Syrien und Irak nicht nur für neue Spannungen sorgen, sondern der Türkei auch weltweit Nachteile bringen. In der EU gibt es keine Todesstrafe. ... Ihre Wiedereinführung könnte den Beitrittsprozess hinfällig machen. ... Wir sollten uns nicht auf schädliche Weise von unserer Wut leiten lassen, sondern unsere Gefühle neu überdenken. Die Wiedereinführung der Todesstrafe würde dazu führen, dass die Türkei politisch und wirtschaftlich in einer anderen Liga bewertet würde; das verdienen wir nicht.“
Das Ende der Beitrittsverhandlungen
Die Todesstrafe in der Türkei wurde 2004 vor Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen abgeschafft. Mit seinem jetzigen Vorstoß verabschiedet sich Erdoğan endgültig von Europa, kritisiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Die Einstellung zur Todesstrafe gibt Auskunft darüber, welchen Werten eine Nation verpflichtet ist. ... Wenn Erdoğan nun zwölf Jahre später erklärt, er würde ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe unterzeichnen, sendet er abermals ein unmissverständliches Signal an die EU - nämlich dass sich seine Türkei heute anders orientiert und dass sie sich nicht mehr als Teil der europäischen Wertegemeinschaft sieht. Sollte das Parlament ein solches Gesetz verabschieden, würde die Türkei ihre Mitgliedschaft im Europarat verlieren, und die Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft würden hinfällig. Die Türkei driftet ab von Europa. Statt mit den europäischen Demokratien sucht Erdoğan den Schulterschluss mit Autokraten wie dem Herrscher im Kreml.“