EU-Türkei-Beziehungen: Wie geht es weiter?
Die EU steht nach dem Ja zur Verfassungsänderung in der Türkei vor der Frage, wie sie ihre Beziehungen zu dem Land gestalten soll, das offiziell noch den Status eines Beitrittskandidaten hat. Einige Kommentatoren mahnen zu äußerster Vorsicht gegenüber einem Land am Rande des Nervenzusammenbruchs. Andere erklären hingegen, dass die Türkei selbst in der Nato nichts mehr verloren hat.
Nato sollte Türkei rausschmeißen
Für den Cicero ist die Frage nicht etwa, ob die EU-Beitrittsgespräche beendet werden sollten - sondern ob die Türkei unter Erdoğan überhaupt weiter in der Nato bleiben kann:
„Der Mann ist eine lose Kanone an Bord des Verteidigungsbündnisses, das sich auf gemeinsame Werte gründet. Was, wenn Erdoğan beim nächsten Putschversuch abermals fremde Mächte, die Gülen-Bewegung oder wen auch immer, als Gegner ausmacht und die Nato-Partner zum Beistand auffordert? Möchte im westlichen Bündnis jemand vor eine solche Frage gestellt werden? … Nach Abwägung der Für und Widers spricht viel dafür, alles zu tun, um sich von diesem Nato-Partner zu verabschieden. Strategisches Ziel des Westens muss sein: so wenig Abhängigkeit von einer Erdoğan-Türkei wie möglich.“
Eine verschlossene Tür gehört gesichert
Griechenland und die gesamte EU müssen gegenüber der Türkei jetzt auf der Hut sein, rät Kathimerini:
„Die türkische Geschichte hat oft gezeigt, dass Triumph und Untergang sehr nah beieinander liegen. Das Problem ist, dass Griechenland an die Türkei grenzt und mit den Folgen der Entwicklungen dort konfrontiert sein wird. Wenn die EU-Türkei-Beziehungen noch schwieriger werden, sind auch unsere Interessen in Gefahr, vor allem, wenn Erdoğan spürt, dass er die Unterstützung von Trump und Putin hat. … Es wird nicht einfach sein, mit einem Nachbarn zu koexistieren, der am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht, mit einem Führer, dessen Befinden zwischen Gigantomanie und Paranoia schwankt. Vielleicht müssen wir sogar unsere europäischen Partner überzeugen, dass sie nun ihre Haltung gegenüber der Türkei mit äußerstem Bedacht wählen müssen. Sie müssen vorsichtig sein, denn wenn sie die Tür für die Türkei dauerhaft schließen, wäre es gut, wenn diese Tür auch gesichert wäre.“
Türkische Opposition braucht Beitrittsoption
Die EU darf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei allein schon deshalb nicht formal beenden, weil dies die Opposition weiter schwächen würde, mahnt Der Standard:
„Ein endgültiger Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wie ihn Österreichs Regierung fordert, würde in der Praxis nichts ändern, da die Gespräche ohnehin eingefroren sind. Aber es wäre ein Signal, dass die EU nicht mehr an die türkische Demokratie glaubt - so wie Donald Trump, als er Erdoğan zum Sieg gratulierte. Der Abbruch ist genau das, was sich der türkische Präsident wünscht, weil er sich dann zum Opfer stilisieren kann. Die Wiedereinführung der Todesstrafe dient dem Zweck, diese Reaktion zu provozieren. Die EU sollte nicht in diese Falle tappen, sondern deutlich erklären, dass man zwar mit Erdoğan keine Beitrittsgespräche führen wird, mit einer zukünftigen Führung, die sich an europäische Werte hält, aber schon. Ein formeller Abbruch würde diese Option verbauen - und die Opposition gegen Erdoğan massiv schwächen.“
Referendum bietet Chance zum Neustart
Dass die Türkei auf absehbare Zeit keine Chance hat, der EU beizutreten, könnte beiden Seiten helfen, in einzelnen Fragen tragfähige Kompromisse zu erzielen, meint das US-Magazin Foreign Policy:
„Einige Beobachter hofften, dass Erdoğans Verteufelung Europas nach einem erfolgreichen Referendum enden würde. Doch könnte diese den Anfang eines türkischen Paradigmenwechsels signalisieren. ... Wenn die Türkei ihre EU-Beitrittsperspektive aufgibt (oder diese verliert), werden zwei Tagesordnungspunkte vermutlich auf dem Tisch bleiben. Da wäre einmal die Flüchtlingskrise. Die politischen Führer der EU haben großes Interesse daran, dass die im vergangenen Sommer ausgehandelten Vereinbarungen bestehen bleiben, um die Migrantenströme aufzuhalten. ... Und dann wäre da noch die Wirtschaft. Beide Seiten könnten die unguten Debatten über Rechtsstaatlichkeit endlich sein lassen und sich stattdessen auf eine Stärkung ihrer Zollunion konzentrieren sowie möglicherweise ein Freihandelsabkommen aushandeln.“
Türken jetzt Visafreiheit gewähren
Für die Tageszeitung taz liegt auf der Hand, wie Europa jetzt reagieren muss:
„Erdoğan wird den EU-Beitrittsprozess durch die Wiedereinführung der Todesstrafe in naher Zukunft beenden. Das Wichtigste ist jetzt, den Kontakt zu den 50 Prozent der türkischen Bevölkerung, die für die Demokratie und den Anschluss an den Westen gestimmt haben, dennoch nicht abreißen zu lassen. Europa muss jede Gelegenheit nutzen, zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen, auch wenn Erdoğan versuchen wird, dies zu verhindern. Und, so merkwürdig sich das im Moment auch anhören mag: Europa sollte den Visazwang für türkische Bürger so schnell wie möglich aufheben. Denn nur so kann die türkische Zivilgesellschaft den Kontakt zu Europa aufrechterhalten, auf den sie so dringend angewiesen ist.“
Sultanat ist nicht hinnehmbar
Eine klare Positionierung der EU gegenüber der Türkei fordert auch Dagens Nyheter:
„Schon vor dem Referendum hatten die Verhandlungen über einen EU-Beitritt keine Aussichten auf Erfolg. Solange Erdoğan an der Macht ist, kommt eine Mitgliedschaft nicht infrage. Gleichwohl sind die ökonomischen Beziehungen zur EU nach wie vor wichtig für die Türkei, zumal sich das Land derzeit im Krebsgang fortbewegt. Das Wachstum ist gering, die Inflation hoch, die Währung hat rapide an Wert verloren. ... Erdoğan hat versprochen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, wenn er nur freie Hand bekommt. Die Wahrheit ist, dass er keine Reformen mehr will, weil sie seine Macht ausdünnen könnten. Stattdessen besteht die Gefahr, dass die Korruption nun weiter zunimmt. Die Türkei liegt nun einmal, wo sie liegt, und die EU und die Nato müssen damit leben. Das ist aber etwas anderes, als Ja zum Sultanat Erdoğanistan zu sagen.“
EU wird weiter mit Erdoğan kollaborieren
Dass sich die EU trotz der autoritären Wende in der Türkei weiter kompromissbereit geben wird, fürchtet Il Sole 24 Ore:
„Die lange Geschichte der Fiktion vom EU-Beitritt der Türkei hat ihre letzte Episode. Mit der Reform zur Präsidial-Autokratie wird Erdoğan zum Rais [Titel eines arabischen Herrschers] und nimmt im östlichen Despotismus seinen Platz zwischen Putin und Assad ein. Wie paradox für ein Land, das Nato-Mitglied ist. Nun werden wir erleben, wie Europa mit seiner üblichen Heuchelei versuchen wird, an der Fiktion vom EU-Beitritt festzuhalten. Werden doch Autokraten vom Westen gemeinhin vorgezogen, da sie für Stabilität sorgen. … Und es gibt noch andere Gründe. Erdoğan kontrolliert nicht nur die Politik. Mit der Gründung des türkischen Staatsfonds hat der Präsident sich bereits den Zugriff gesichert auf strategisch wichtige Firmen und auf Großprojekte, zu denen sich europäische Unternehmen mit Ankara verpflichtet haben. Nach den üblichen ernsten Worten werden die Europäer mit dem neuen Rais Kompromisse eingehen - auf Kosten der Opposition, der Kurden und der Demokratie.“
Türkei entgleitet Europa
Mit der Einführung des Präsidialsystems bricht Erdoğan alle Brücken mit der EU ab, analysiert Dnevnik:
„Mit einigen Wahlkampfauftritten hat Erdoğan sich endgültig gegen eine EU-Mitgliedschaft entschieden. Diese Entscheidung wird er nun offensichtlich mit der erneuten Einführung der Todesstrafe in der Türkei bekräftigen. Damit wird er die Zeit zurückdrehen, seine Macht zusätzlich festigen und die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU abbrechen. Als Erdoğan mit der Demontage des Rechtsstaats begann, wurde die mehrere Millionen schwere, finanzielle Heranführungshilfe der EU für die Türkei zur Unterstützung der Rechtstaatlichkeit, fast völlig gestoppt. Nach dem Tod der Demokratie am Bosporus steht die EU gegenüber der Türkei noch schwächer da als vorher.“