Sollte die EU im Katalonien-Streit vermitteln?
Auch nach der katalanischen Unabhängigkeitserklärung hält die EU weiter an ihrem Prinzip fest, sich nicht in den innerstaatlichen Konflikt Spaniens einzumischen. Dass sich Brüssel nicht auf die Seite der Separatisten schlägt, halten Kommentatoren für richtig. Sie finden aber auch: Das ist nicht genug.
EU darf Kopf nicht länger in den Sand stecken
Aus eigenem Interesse sollte die EU einen Kompromiss zwischen Madrid und Barcelona vermitteln, rät Ilta-Sanomat:
„Auch wenn Madrid die Lage jetzt irgendwie beruhigen kann, so ist doch eine große Gruppe der Katalanen von der Unabhängigkeitsidee angesteckt. Wenn diese das Gefühl hat, dass sie von der Zentralregierung gedemütigt wird, dann sind die Folgen unabsehbar. … Eine Verschärfung der Situation ist schlecht für die EU. Das kaum in Gang gekommene Wirtschaftswachstum Spaniens könnte wieder in eine Rezession kippen und die schwachen Wirtschaften anderer Mittelmeerländer erschüttern. Es wäre im Sinne der EU, wenn in Katalonien ein Kompromiss über die Ausweitung der Autonomie ausgehandelt würde, bei dem alle ihr Gesicht wahren können. Auf dieses Ziel hin muss die EU jetzt arbeiten. Das Ansehen steigt jedenfalls nicht, wenn man den Kopf in den Sand steckt.“
Neutralität könnte schwierig werden
Dass die EU sich nicht einmischen will, hält Eesti Päevaleht für richtig, zeigt aber auch auf, wie dieses Prinzip an seine Grenzen stoßen könnte:
„Die Meinungen darüber, wer in dieser Situation 'gut' und 'böse' ist, gehen weit auseinander. ... Auf der verbalen Ebene sind alle EU-Staatsoberhäupter bis jetzt überraschend einig gewesen. Zum Glück hat es keine Polizeigewalt gegeben wie am Tag des Referendums in Katalonien. Aber es wird nicht leicht sein, am Prinzip der Nichteinmischung festzuhalten, wenn zum Beispiel die Staatsanwaltschaft beschließt, demokratisch gewählte katalanische Politiker festzunehmen oder jemand von ihnen um Asyl bittet. Hoffentlich wird Rajoy nicht mehr Öl ins Feuer gießen, sondern alle davon überzeugen, an der Wahl am 21. Dezember teilzunehmen.“
Europäische Ordnung steht auf dem Spiel
Die EU muss die Abspaltung Kataloniens von Spanien verhindern, mahnt La Repubblica:
„Die Balkanisierung Europas ist inakzeptabel. Schwerlich würde sie friedlich verlaufen. Wir müssen überlegen, wie wir sie verhindern können, ohne Tabu, mit Kompromissbereitschaft. Hier geht es nicht um Interpretationen des Verfassungs- oder schlimmer noch des internationalen Rechts, derweil letzteres von den Staaten im Namen der eigenen Interessen grundsätzlich manipuliert oder ignoriert wird. ... Auf dem Spiel steht die demokratische und friedliche Ordnung unseres Kontinents, angefangen bei der großen spanischen Demokratie. Zu lange hat sie ihre internen Nationalismen als reine Regionalismen abgetan. Das spanische Problem ist auch ein europäisches. Wer dies nicht sieht, verwechselt einen geopolitischen Disput mit einem Rechtsstreit. Wir alle werden für diesen Fehler büßen.“
EU treibt Minderheiten in den Nationalismus
Tief enttäuscht vom Verhalten der EU in dem Konflikt zeigt sich Der Nordschleswiger:
„Eine große Chance wurde vertan, den Bürgern in Europa zu zeigen, dass die Europäische Union sich um ihre Belange kümmert und versucht zu vermitteln. Eines ist ganz deutlich aus den Reaktionen der Mitgliedsstaaten und der EU-Institutionen abzulesen: Die EU ist eine Organisation der Staaten und nicht eine Gemeinschaft der Europäer oder gar der Regionen beziehungsweise Minderheiten. Die Macht des Nationalstaats soll unter allen Umständen gewahrt bleiben, koste es was es wolle. Das treibt jedoch die Vertreter der Minderheiten und Regionen immer weiter weg von ihrem mehrheitlich pro-europäischen Kurs, direkt in die Arme von Nationalisten und politischen Extremisten.“
Europa zeigt sich von antidemokratischer Seite
Auch Evrensel hält es für falsch, dass sich die EU nicht auf die Seite der Katalanen stellt:
„Der Wunsch nach Unabhängigkeit unterdrückter Nationen endet nie, er wird von Generation zu Generation weitergegeben. ... Die Katalanen wollen so wie andere Völker inmitten Europas ihr eigenes Schicksal bestimmen. ... Dabei muss betont werden, dass die EU deshalb nicht zerfallen wird. Denn alle diese [nach Unabhängigkeit strebenden] Regionen, insbesondere Katalonien, erklären, dass sie in der EU bleiben wollen. ... Wenn die EU wirklich einen übernationalen Charakter besitzt, dann sollte sie die Hand nach den unterdrückten Völkern ausstrecken und ihnen, ebenso wie den anderen, eine Existenz bieten. Doch indem sie im Interesse der souveränen Nationalstaaten handelt, zeigt die EU sich eigentlich von ihrer antidemokratischen Seite.“
Uneinigkeit macht alles noch schlimmer
Es könnte sich als fatal erweisen, dass sich die Union nicht zu einer einheitlichen Linie in der Katalonien-Krise durchringen kann, klagt Irish Examiner:
„Katalonien könnte der Anlass sein, der die EU endgültig in eine existenzielle Krise stürzt. ... Bisher gab es lediglich unkoordinierte Stellungnahmen einzelner politischer Führer in der EU. ... Einer der Vizepräsidenten des Europaparlaments, Ramón Luis Valcárcel, beschrieb das Referendum in Katalonien als 'Putsch gegen Europa'. Tatsächlich könnte die Unzufriedenheit in Katalonien nur der Anfang sein. Denn Spannungen sind bereits in Osteuropa offensichtlich. Deshalb ist eine innerhalb der EU abgestimmte Reaktion von entscheidender Bedeutung.“
Dialogbereitschaft ist nur Show
Dass die Zentralregierung in Madrid jetzt mit der katalanischen Regionalregierung verhandeln will, ist allein ihrem Imageschaden in der EU geschuldet, kritisiert El Punt Avui:
„Damit es ein echter Dialog werden kann, muss er zwischen Gleichberechtigten geführt werden. Und hier besteht die erste Hürde in der Beziehung zwischen den Regierungen in Katalonien und Spanien. Es fehlt an Anerkennung. ... Das Angebot einer Verfassungsreform ist eher eine Geste gegenüber Europa, wo man es als Zeichen der politischen Reife auffasst. Der spanische Staat sah sich gezwungen, ein entsprechendes Angebot zu machen, um Dialogbereitschaft zu signalisieren.“
Die EU hätte doch Erfahrung
Enttäuscht über die Absage der EU als Vermittlerin ist die katalanische Tageszeitung Ara:
„Während die Regierung in Katalonien weiterhin eine internationale Vermittlung fordert, antwortet Brüssel, dass es die katalanische Krise weiter als innere Angelegenheit Spaniens behandeln wird. Madrid will keine Aufsicht von außen, obwohl die Europäische Union Erfahrungen in Mediationen hätte, und nicht nur außerhalb des eigenen Territoriums. Sie vermittelte im Nordirlandkonflikt, wo Brüssel den Friedensprozess wirtschaftlich und politisch begleitete, um die geografischen und gesellschaftlichen Grenzen zu überwinden. Und sie vermittelte in Zypern und zwar schon vor dem EU-Beitritt der Republik Zypern.“
Mit zweierlei Maß
Für Postimees ist das Verhalten der EU in der Katalonien-Krise ein weiteres Beispiel dafür, dass sie häufig mit zweierlei Maß misst:
„Die Europäische Kommission macht sich Sorgen wegen dem, was in Polen und Ungarn geschieht, doch gegenüber Madrid zeigt man sich sehr milde. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker prangert die Türkei an, während in der Ukraine mehr als 10.000 Menschen getötet wurden. Diese Vorkommnisse sind Wasser auf die Mühlen derer, die denken, dass es keine europäischen Werte gibt und es irgendwelche Schwesternschaften waren, die sich die Menschenrechte ausgedacht haben.“
Warum Spanien (noch) nicht Ungarn oder Polen ist
Weil Madrid sich auf geltendes Recht berufen kann, ist die Haltung der EU im Prinzip richtig, den Konflikt als innere Angelegenheit zu betrachten, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Das ist der Unterschied zu Polen, Ungarn oder Rumänien, wo Brüssel aktiv wurde, weil es die Regierungen sind, die sich am Rechtsstaat vergehen. Aber je mehr sich die spanische Regierung darauf versteift, die Unabhängigkeitsbewegung mit polizeilichen Mitteln aufzuhalten, desto größer ist die Gefahr, dass sie tatsächlich beginnt, die Grundrechte ihrer Bürger zu verletzen - und das wäre ein Fall für die EU. ... Die Bewegung ist so stark, dass der Konflikt politisch gelöst werden muss. Deshalb muss sich auch Spaniens Regierung bewegen. Sollte es so weit kommen, dass ihr das von Brüssel gesagt werden muss, wäre nicht nur die Einheit Spaniens, sondern auch die der EU in Gefahr.“
Fragt doch die Belgier!
Im Katalonien-Konflikt wäre eine belgische Perspektive angebracht, rät De Morgen:
„Der Staatsaufbau Belgiens ist frustrierend komplex und alles andere als perfekt. Dennoch ermöglicht er, dass die großen Gemeinschaften hier friedlich miteinander leben. ... Sogar noch mit all seinem teuren Wirrwarr von Unvollkommenheiten ist dieses belgische Modell dem riskanten Konfliktmodell vorzuziehen, das die spanischen und katalanischen Politiker nun bis zum Äußersten ausreizen. Täglich gibt es mehr Grund zu Pessimismus, scheint eine friedliche Lösung unwahrscheinlicher. ... Wenn uns Frieden in Europa etwas wert ist, dann muss jemand von außerhalb das Gespräch in die Hand nehmen. Und nehmt dazu einen Belgier mit. Wir kennen den Ausweg aus so einem Elend, auch wenn das etwas kostet. Aber Friede hat seinen Preis.“
"Causa catalana" nicht ignorieren
Die EU muss auch aus eigenem Interesse in Katalonien vermitteln, fordert die Wiener Zeitung:
„Das derzeitige Verhalten der EU in der Katalonien-Frage ist auch deswegen vollkommen kontraproduktiv, weil es ihr eigenes Image beschädigt. Die Schande Spaniens wird somit zur Schande Europas. Es trägt lediglich zu einem EU-Skeptizismus bei, der sich rasch unter Katalanen - und Europäern - ausweiten könnte. Wenn Brüssel die weitgehend als offen und EU-freundlich geltende katalanische Bevölkerung und ihre 'Causa catalana' weiterhin ignoriert, könnte die EU bald als Befürworter maßloser Polizeigewalt und anti-demokratischer Tendenzen dargestellt werden. In einer Ära, in der EU-kritische Parteien immer mehr Zuspruch finden, in Parlamente einziehen oder gar Regierungen anführen, ist das keine gute Nachricht für das Projekt Europa.“
Brüssel muss jetzt schnell handeln
Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau hat die EU dazu aufgerufen, im Konflikt mit Madrid zu schlichten. Dazu rät auch Les Echos:
„Zwar steht die EU in dieser Angelegenheit, die die Regierenden in Spanien betrifft, nicht an vorderster Front. Doch kann sie sich nicht damit begnügen, 'alle entscheidenden Akteure zur Abkehr von der Konfrontation und zur Aufnahme eines Dialogs' aufzufordern. … Brüssel kann sich auch nicht leisten, dass sich im Herzen Europas eine neue Krise entwickelt - diesmal eine politische und nicht mehr wie im Fall Griechenlands eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Es gibt nicht viel Spielraum, aber immerhin ein wenig: Die katalanische Regierung weiß nicht recht, was sie mit ihrem 'Sieg' anfangen soll. Nun muss schnell gehandelt werden. Denn sonst könnten andere europäische Regionen dem Beispiel Kataloniens folgen.“
Armutszeugnis für Europa
Dass die EU Spaniens Premier gewähren lässt, könnte sich als großer Fehler erweisen, meint Die Welt:
„Es rächt sich, dass die EU einerseits nationalstaatliche Hoheitsfragen wie Grenzsicherung, Währung, Justiz immer weiter an sich gezogen hat, doch wenn es dadurch innerhalb einer Nation zu anarchischen oder wenigstens zentrifugalen Entwicklungen kommt, dann hält sich Brüssel an das Gebot der Nichteinmischung. ... Wenig mehr als ein paar dürre Worte zur Einhaltung der Rechtstaatlichkeit waren von Angela Merkel denn auch nicht zu hören, wohl weil sie ihren treuen Paladin Rajoy nicht diskreditieren möchte. ... Wenn innerhalb Spaniens nicht schnell die abgebrochenen Brücken geflickt werden und - auch mit Nachhilfe aus dem Ausland - die Vernunft der demokratischen Mitte endlich wieder die Oberhand bekommt, dann droht einer wohlhabenden Region mitten im freiheitlichen Europa ein Bürgerkriegsszenario.“
Einmischung wäre gefährlich
Eine Einmischung der EU in den Konflikt wäre vielleicht moralisch wünschenswert, jedoch politisch riskant, fürchtet Público:
„Es sei daran erinnert, dass die EU auf rechtsstaatlichen Verträgen basiert. … Jegliche Intervention seitens der EU, die nicht von Spanien beantragt oder angenommen wird, wäre eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des spanischen Staats. Schlimmer noch: Juristisch betrachtet könnte dies als Verletzung des Vertrags über die Europäische Union gewertet werden. Eine solche Einmischung würde zu tiefen Spaltungen innerhalb der EU führen und den Konflikt [zwischen Madrid und Katalonien] spürbar verstärken.“
Doppelmoral vom Feinsten
Die EU unterstützt Unabhängigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt, doch auf eigenem Gebiet hält sie sie für illegal, kritisiert die linke Tageszeitung Duma:
„Das ist Doppelmoral vom feinsten. ... Wenn es darum geht, in Syrien oder im Kosovo für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen, ist in Brüssel jedes Mittel recht: ... Das Anzetteln von Konflikten, in denen man die Opposition finanziell unterstützt und bewaffnet und somit den Separatisten Rückendeckung gibt, die Anerkennung neuer Staaten und so weiter. Alles unter dem Vorwand der Einhaltung der Menschenrechte und des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung. Wenn es aber im eigenen Haus einmal brennt, ist alles auf einmal illegal.“