Was läuft falsch in Tunesien?
Seit rund einer Woche demonstrieren die Menschen in Tunesien gegen hohe Lebenshaltungskosten und die Sparpolitik der Regierung. Sieben Jahre nach dem Arabischen Frühling, der in dem nordafrikanischen Land begann, analysieren Journalisten die Hintergründe der erneuten Proteste.
Die wahren Probleme werden verkannt
Tunesien ist nicht allein verantwortlich für seine miserable Lage, findet Der Standard:
„Immer wieder gibt es große Reformansätze - wie, für die arabische Welt beispielhaft, bei den Frauenrechten. Aber anderswo kommt, auch weil die Menschen zunehmend ihre Ungeduld zeigen, der Autoritarismus zurückgekrochen. Viele Probleme sind hausgemacht, aber auch die internationale Gemeinschaft ist Tunesien vieles schuldig geblieben. Die USA sehen Tunesien etwa nur im Kontext der Terrorbekämpfung. Der Zusammenhang zwischen Radikalisierung und sozialen Problemen, mit der Frustration über Misswirtschaft und Korruption, wird kaum hergestellt. Und in alldem wächst bei einigen die Sehnsucht nach einer Konterrevolution, wie sie Ägypten erlebt hat.“
Land braucht echte Hilfe statt strenger Auflagen
Der Westen muss mehr tun, um die Demokratie in Tunesien am Leben zu erhalten, fordert auch Financial Times:
„Nicht nur die Regierung in Tunis reagierte auf die Forderungen der Revolution merkwürdig zurückhaltend, sondern auch der Internationale Währungsfonds, der wegen des stagnierenden wirtschaftlichen Wachstums um Hilfe gebeten wurde. Der Fonds verschrieb einem Land, in dem schlimme soziale Ungleichheit herrscht und das einen schwierigen politischen Wandel erlebt, die bittere Pille der Strukturreformen. Natürlich kann man vom IWF nicht erwarten, Tunesien anders zu behandeln als andere Patienten. Doch wenn Europa und die USA überzeugt sind, dass Tunesien ein spezieller Fall ist und eine streng technokratische Reaktion auf die Forderungen der Revolution nicht machbar ist, könnten sie mehr Unterstützung leisten.“
Keine Partei hat das Allgemeinwohl im Blick
Der Politikberater Hakim El Karoui hofft in L'Opinion, dass die tunesischen Parteien sich der Sorgen der Bevölkerung annehmen:
„Sie schaffen es nicht, eine zielführende Debatte über die Zukunft der Gesellschaft zu führen. Und so kämpfen die verschiedenen Interessensgruppen dafür, ihr Vermögen zu sichern. Die Beamten, die ihren Rang eingebüßt haben und schlecht bezahlt werden, fürchten sich davor, Entscheidungen zu treffen - aus Angst, der Veruntreuung beschuldigt zu werden. Und damit stockt das ganze Land. Gleichzeitig hegt die Bevölkerung enorme Erwartungen und die Populisten überbieten einander gegenseitig mit Versprechen. … Um wieder auf Touren zu kommen, braucht Tunesien neue Institutionen - es sei denn, die Krise vermag es, die Parteien endlich dazu zu bewegen, sich stärker für das Allgemeinwohl als für persönliche Interessen einzusetzen.“