Vertiefen sich Gräben zwischen Wien und Berlin?
Einen Monat nach Bildung der rechtskonservativen Regierung hat Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz am Mittwoch Angela Merkel besucht. Da Kurz zuvor die Flüchtlingspolitik Berlins kritisiert hatte und im Gegensatz zur deutschen Bundeskanzlerin Brüssels Macht beschränken will, wurde das Treffen mit Spannung erwartet. Von Konflikten war aber nicht viel zu spüren, finden Kommentatoren.
Warum sich Merkel mit Belehrungen zurückhält
Dass sich Berlin mit Kritik an der österreichischen Regierung zurückhält, liegt auch an dem Agieren von Kurz in der Flüchtlingskrise, glaubt der Deutschlandfunk:
„[Kurz] konterkarierte damals die Haltung der Bundeskanzlerin. Aber: Durch die Schließung der Balkan-Route sanken auch die Flüchtlingszahlen in Deutschland. Angela Merkel bekam so den politischen Spielraum, den sie händeringend suchte. Kurz ist Profi genug, dafür keinen öffentlichen Dank zu erwarten. Doch so muss er andererseits auch keine Kritik oder gar Belehrungen befürchten. Nicht für seinen Widerstand gegen EU-weite Flüchtlingsquoten, nicht für sein Spardiktat mit Blick auf Brüssel, nicht einmal für sein Bündnis mit den Rechtspopulisten von der FPÖ. 'Sie werde etwas genauer hinschauen als gewöhnlich', das war alles, was von Angela Merkel diesbezüglich öffentlich zu hören war.“
Visegrád-Länder sollten sich ein Beispiel nehmen
Der österreichische Kanzler versteht es besser als die Politiker der Visegrád-Staaten, seiner Kritik an der EU Gehör zu verschaffen, bemerkt Lidové noviny:
„Kurz will mit Deutschland an einem Strang ziehen, möchte aber außerdem Reformen in der EU durchsetzen, die gegen die bisherige Politik der Kanzlerin gerichtet sind. Etwa dahingehend, dass der Schutz der EU-Außengrenze wichtiger ist als der Irrweg der Migrantenverteilung. ... Bei all dem hat Kurz eine gute Kinderstube. Er hält den Deutschen keine Schuld vor, spricht nicht über die EU als erfolglos, sondern konzentriert sich darauf, was geändert werden muss, ohne dass die EU zerfällt. Für die Visegrád-Länder ist Kurz ein nacheifernswertes Beispiel.“
Der Strahlekanzler verdeckt die FPÖ
Bundeskanzler Kurz will sich in der EU-Politik nicht vom Koalitionspartner FPÖ unterkriegen lassen, beobachtet Der Standard:
„Diese Botschaft hat er selbst mit seinem jungenhaften Charisma in die EU-Hauptstädte mitgebracht: Man solle das Handeln seiner Minister beurteilen, nicht das hässliche Bild einer aggressiven, ausländerfeindlichen und spalterischen Partei, das die FPÖ in Europa seit Jahren abgibt, sehr konkret im Europäischen Parlament. Die Freiheitlichen sehen sich dadurch in der ungewohnten Rolle, sich stilistisch benehmen zu müssen, wollen sie ernst genommen und anerkannt werden. ... Dazu kommt, dass Kurz seinen Regierungspartner in ein enges Korsett gespannt hat, indem er die gesamte EU-Koordinierung an sich zog. Im Zweifel gilt, was er sagt - was immer die FPÖ tut.“
Salonpopulisten spalten Europa immer weiter
Für die Berliner Zeitung stehen Merkel und Kurz für zwei unterschiedliche Ideen von Europa:
„Zu erwarten ist, dass Kurz und seine Regierung sich stärker in Richtung der osteuropäischen Länder wie Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn orientieren werden. ... Österreich ist auf der Suche nach Verbündeten, die einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei unterstützen. Das kann ebenso wenig in Merkels Interesse sein wie die Schwächung Brüssels, die Österreich anstrebt. Auch in der Flüchtlings- und Asylpolitik werden die Differenzen wachsen. … Eine Abkehr vom europäischen Solidargedanken aber wird weder mit Merkel noch mit der SPD zu machen sein. Die Spaltung Europas wird mit Salonpopulisten wie Sebastian Kurz noch tiefer.“
Berlin ist für Kurz längst ein Heimspiel
Bundeskanzler Sebastian Kurz ist in Deutschland ein mit regem Interesse erwarteter Gast, glaubt der Kurier:
„Kurz ist bei unseren Nachbarn längst zur Symbolfigur für den in Berlin überfälligen Generationswechsel geworden. Paris hat mit Emmanuel Macron einen neuen selbstbewussten Player auch in Brüssel. Berlin quält sich gerade in die nächste ungeliebte GroKo. Kurz punktet zudem einmal mehr mit seinem außergewöhnlichen Kommunikationstalent. Und last but not least: Der Österreicher hat in der Flüchtlingskrise ausgesprochen, was sich viele Deutsche dachten, aber nur wenige zu sagen wagten. Das spielt 2018 im kollektiven Unterbewusstsein nach wie vor eine gewichtige Rolle.“