Putin vor seiner vierten Amtszeit
Am Sonntag wählen die Russen einen neuen Präsidenten - und damit sehr wahrscheinlich den alten. Genug Diskussionsstoff bietet die Wahl für Europas Kommentatoren dennoch: Sie erklären, wie die Krim abstimmen wird und fragen sich, wie lange Putin noch im Amt bleibt. Einige sehen den Zeitpunkt für eine Versöhnung zwischen G7 und Russland gekommen.
Die Krim ist dankbar
Warum Putin auf der Krim mit einem triumphalen Ergebnis rechnen kann, erklärt der dort lebende Blogger Alexander Gorny im Radiosender Echo Moskwy:
„Russland hat enorme Haushaltsmittel in die Entwicklung der Infrastruktur der Krim gesteckt - und es sind die richtigen Investitionen. ... Vor vier Jahren hat Putin die Krim vor Chaos und Gemetzel gerettet, die Halbinsel hätte sich entzünden können wie ein Streichholz. Viele Sofa-Analysten auf dem Festland verstehen das nicht oder wollen es nicht wahrhaben. Für sie ist der Maidan und alles, was damit zu tun hat, ein Spiel in Sachen Demokratie und Meinungsfreiheit gewesen. Dabei hätte es schlimmer brennen können als im Donbass. ... Heute ist die Krim eine Insel der Ruhe und Entwicklung - und darin liegt unbestreitbar das persönliche Verdienst Putins.“
Irgendwann endet auch diese Ära
Obwohl eine Wiederwahl des russischen Präsidenten außer Frage zu stehen scheint, denkt Rzeczpospolita bereits an eine Zeit nach Putin:
„'Seitdem ich die Macht angetreten habe, suche ich einen Nachfolger', erklärte Putin unlängst in einem Interview. Dies könnte bedeuten, dass 2024 die Ära des 'Sammlers der russischen Erde' endet. ... Putin muss nicht beweisen, dass er die Unterstützung der Bevölkerung hat, die Mehrheit der Russen würde für ihn durchs Feuer gehen. ... Dennoch ist deutlich zu erkennen, dass Putin in den großen Metropolen wie Moskau und St. Petersburg an Unterstützung verliert. Deshalb werden hohe Wahlergebnisse in der Provinz für ihn von besonderer Bedeutung sein.“
Putin könnte chinesischen Weg gehen
Sucht Putin bereits nach einem Nachfolger? Darüber kann der in der Ukraine arbeitende russische Journalist Jewgeni Kisseljow nur müde lächeln. Er schreibt in Nowoje Wremja:
„Ich bin mir da nicht so sicher und würde mich auch nicht wundern, wenn Putin den chinesischen Weg geht. Er sagte in einem Interview, dass er niemals die Verfassung geändert hat und das auch nicht tun wird. Das ist unwahr: Einige sehr wichtige Dinge haben sich bereits geändert. Ja, formal war Putin nicht Chef des Landes, als die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre und die Legislaturperiode der Staatsduma von vier auf fünf Jahre verlängert wurde. ... Doch Putin ist stets 'Herr seiner Worte': Wenn ich möchte, gebe ich; wenn ich möchte, nehme ich das, was ich gegeben habe, zurück. Heute ändere ich die Verfassung nicht; morgen ändere ich sie. Setzen wir also unsere Beobachtungen fort.“
Frieden mit Russland schließen
Ökonomin Laurence Daziano rät in Le Figaro zu einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen Russland und Europa:
„Nach fast zehn Jahren zunehmenden Misstrauens zwischen Europa und Russland, das in neuem Wettrüsten, einem latenten Cyberkrieg und mörderischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in der Ukraine gipfelt, ist es nun Zeit darüber nachzudenken, wie man die Krise erhobenen Hauptes beenden kann. Ein nachhaltiger Friedensplan zwischen den G7 und Russland könnte durch eine diplomatische Initiative vorbereitet werden, die Moskau Perspektiven in Aussicht stellt und den Interessen der Europäer ebenso Rechnung trägt wie denen der Russen. Vorausgehen sollten einem solchen diplomatischen Versuch Bemühungen zur Vertrauenswiederherstellung. Dazu eignet sich eine Wiederaufnahme Russlands in die G7, also eine Reaktivierung der G8-Runde.“
Was die Russen Putin verdanken
Worauf die große Unterstützung für Putin bei vielen einfachen Russen beruht, erklärt Le Quotidien:
„Die Kreml-Politik ist aus westlicher Sicht in vieler Hinsicht zu kritisieren: Fehlende Pressefreiheit, verbreitete Korruption, Hass auf Homosexuelle, systematische Inhaftierung von oppositionellen Politikern. … Aber versetzen wir uns in die Lage eines Russen, der die kommunistische Ära erlebt hat und dann ihren Niedergang 1991. Der ein Land erlebt hat, das seinem Volk große Hoffnungen machte, obwohl es unter Boris Jelzin vor die Hunde ging. Hungersnot, Armut, hoffnungslose Leere in den Lebensmittelgeschäften, ein von der lokalen Mafia genährtes Gefühl der Unsicherheit - das Alltagsleben der Russen war nicht immer so wie heute. … Wie kann man es diesen Menschen verübeln, dass sie die Pest der Cholera vorziehen? Insbesondere, wenn sie die Cholera erlebt haben?“
Auch Putins Erfolg hat Grenzen
Ganz anders sieht das Artı Gerçek: Die unter Putin entstandenen Missverhältnisse könnten für die Russen noch bittere Folgen haben:
„In der Ära Putin hat das Nationaleinkommen neue Höhen erreicht, bleibt aber noch weit von dem der Größten der Welt, den USA, China und Europa, entfernt. Die Diplomatie konnte einige Erfolge verzeichnen, durch die immanenten Interessen von Gazprom haben diese aber abgenommen und sie ist seit den Ereignissen auf der Krim sehr festgefahren. Angesichts dieser russischen Missverhältnisse ist verständlich, wie schwer es ist, moralische Werte zu bewahren. Korruption hat die gesamte Gesellschaft durchdrungen, insbesondere die obersten Schichten. Daraus können in Zukunft Situationen entstehen, wie sie sich selbst die mutigsten Drehbuchautoren nicht vorstellen können und die schwer zu überwinden sein werden.“
Ausgerechnet am Jahrestag der Krim-Annexion
Die Präsidentschaftswahl findet am vierten Jahrestag der Krim-Annektierung statt. Postimees hofft, dass der Westen seine Aufmerksamkeit weiter auf die dortige Lage richtet:
„Die Wahl ist nur dem Namen nach eine Wahl. Man könnte sie besser als Ernennung oder Spektakel bezeichnen. ... Die interessanteren Fragen stellen sich in Bezug auf die Krim. Hätte man ihre Besetzung verhindern können? Wohl kaum... Durch die Krim-Annexion wurde die Weltordnung der Ära nach dem Kalten Krieg vernichtet. Was nun aus der Krim wird, ist schwer zu sagen. In der Hauptsache ist zu hoffen, dass der Westen, darunter auch Estland, die Krim und die Ostukraine nicht vergisst. Das ist das Mindeste, was wir tun können.“
Fast wie Weihnachten
Die Regierung hat kurz vor der Wahl deutliche Lohnerhöhungen für Ärzte, Uniprofessoren und Wissenschaftler angekündigt. Radio Kommersant FM erklärt, warum:
„Die letzte Woche vor der Wahl hat begonnen. Also müssen die Behörden für die Bürger so viel Gutes tun wie nur möglich: Schnee wegräumen, Löhne erhöhen, in Treppenhäusern Glühbirnen anbringen. ... Leider wird man wohl auch dazu auffordern, zur Wahl zu gehen und richtig abzustimmen, nach dem Motto: Wir waren gut zu Ihnen, das sollten Sie schätzen. Ökonomen warnen allerdings: Das ganze Jahr hieß es, das Geld sei knapp, der Haushalt nun mal nicht aus Gummi, die Zeiten schwierig - und plötzlich eine Lohnerhöhung auf das Doppelte des regionalen Durchschnitts? Wie soll das zur makroökonomischen Stabilität passen? Aber warum nicht, Wahlen sind nicht alle Tage, einmal in sechs Jahren kann man sich das leisten.“
Wahl als Gelegenheit zum Protest
Der im Exil lebende Putin-Kritiker Michail Chodorkowski schildert in einem von Echo Moskwy veröffentlichten Blogbeitrag, wie er über eine russische Auslandsvertretung in Deutschland bereits an der Wahl teilgenommen hat:
„Die Wahlkommission gab mir meinen Stimmzettel und ich habe in voller staatsbürgerlicher Verantwortung 'Ich habe Putin satt' darauf geschrieben, mein Werk fotografiert und ins Internet gestellt. Warum? Ich versuche immer, alles so zu machen, wie ich es anderen empfehle. Und jetzt fordere ich dazu auf, die Wahl zu beobachten, demonstrieren zu gehen und für den eigenen Wunschkandidaten abzustimmen. Und wenn es den nicht gibt, dann schreiben Sie auf den Wahlzettel, was Sie für richtig halten, fotografieren ihn und stellen ihn mit Geo-Tag ins Netz. ... Das ist, im Gegensatz zum Sitzenbleiben auf dem Sofa, eine äußerst klare Botschaft an die Staatsmacht und die Mitbürger - eine individuelle Demonstration.“