Sollte Puigdemont ausgeliefert werden?
Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hält den Europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont für berechtigt und will den ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten an Spanien ausliefern lassen. Die spanische Justiz wirft ihm unter anderem Rebellion vor. Nun muss das Oberlandesgericht über die Auslieferung entscheiden. Die Kommentatoren sind in der Frage uneins.
Zeit zu verhandeln
Eine Auslieferung Puigdemonts an Spanien hält der Deutschlandfunk für falsch:
„Bevor Carles Puigdemont für die Separatisten endgültig zum Märtyrer wird, sollte er unbehelligt in sein Exil nach Belgien reisen dürfen. Im Zweifel sollte die Bundesregierung den ihr im Rahmen des europäischen Haftbefehls zustehenden Billigungsspielraum nutzen und im katalanischen Konflikt endlich vermitteln. Es liegt doch auf der Hand, dass das Verfahren gegen Puigdemont und seine größtenteils bereits inhaftierten Mitstreiter politisch motiviert ist. … [J]e länger Regierungschef Rajoy in Madrid das juristische Tauziehen einer politischen Lösung vorzieht, desto tiefer wird der Graben und desto radikaler der Widerstand. Es ist Zeit zu verhandeln, bevor es in Katalonien wirklich zu einer Rebellion kommt.“
Applaus für eine wehrhafte EU
Für El Mundo führt kein Weg an einer Auslieferung vorbei:
„Nur wer isoliert in seinem separatistischen Gedankengebäude lebt, kann überrascht sein, dass sich Deutschland gegenüber Puigdemont so verhält, wie es sich für einen Staat wie Deutschland gegenüber einer Person wie Puigdemont gehört: So ist eben der Umgang eines EU-Rechtsstaats mit einem mutmaßlich Kriminellen, dessen Auslieferung von einem anderen Mitgliedsstaat gefordert wird. ... Nichts sollte der baldigen Auslieferung Puigdemonts an die spanischen Behörden im Weg stehen, damit er zur Verantwortung gezogen wird. Das Ende seiner Straflosigkeit erleichtert uns überzeugte Europäer, die wir an eine EU glauben, die in der Lage ist, sich gegen einen nationalpopulistischen Ausbruch zu wehren.“
Das war es mit dem Separatismus
Jetzt ist der katalanische Unabhängigkeitskampf gescheitert, meint der Historiker Benoît Pellistrandi auf der Debattenplattform Telos:
„Ich glaube, dass die Episode Puigdemont an ihr Ende gelangt ist und mit ihr auch eine gewisse Form der Katalonienkrise. Die Unabhängigkeitskämpfer sind zur Rückkehr in die Realität gezwungen. Sie haben den spanischen Staat unterschätzt und vergessen, dass dieser ein solider, anerkannter und geachteter Rechtsstaat ist. Einige katalanische Verantwortliche müssen sich vor Gericht verantworten, da sie gegen das Gesetz verstoßen haben. Nichts Außergewöhnliches, wenn man nicht hinnehmen will, dass der revolutionäre Bruch über die demokratische Norm siegt. ... Die Revolution in Katalonien ist gescheitert, weil die Situation dort nicht revolutionär war! Die Separatisten haben die öffentliche Meinung in Europa und die Positionen der Regierungen falsch eingeschätzt.“
Politische Verfolgung fehl am Platz
Irish Examiner findet die Verfolgungsjagd auf Puigdemont empörend:
„Der Anführer der katalanischen Bewegung ist ein Nationalist, aber sicher nicht der gefährliche Revolutionär, als den ihn die spanischen Behörden gerne darstellen. … Spanien sucht Puigdemont wegen 'Aufwiegelung' - ein sehr alter Straftatbestand, der schon erfüllt ist, wenn jemand von der herrschenden Ordnung abweicht. Es geht hier nicht darum, einen Kriminellen juristisch zu belangen. Nein, hier wird ein - zugegeben stürmischer - politischer Anführer verfolgt. Die Jagd auf Puigdemont ist zweifellos ein politischer Akt der spanischen Behörden. Und er ist einer Demokratie, insbesondere einer EU-Demokratie, nicht würdig. Die anderen EU-Staaten sollten Widerstand leisten anstatt ihn zu unterstützen.“
EU darf sich nicht raushalten
Dass die EU sich nach wie vor weigert, in dem Konflikt zu vermitteln, findet die Wochenzeitung Der Freitag schwer nachvollziehbar:
„Gegenüber anderen Bewegungen zur politischen Selbstbestimmung hat es das nie gegeben. 1990/91 wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Sowjetrepubliken gegen die UdSSR ausdrücklich unterstützt. Im Zypern-Konflikt wird seit Jahrzehnten vermittelt, bei der Sezession des Kosovo von Serbien ist die EU gar federführend in Erscheinung getreten und hat Teile der politischen und juristischen Verwaltung des Anfang 2008 aus der Taufe gehobenen Staates selbst übernommen. Macht sich die EU endgültig die offizielle spanische Lesart des Katalonien-Konflikts zu eigen, [es handele sich um eine innenpolitische Angelegenheit] degradiert das die Theorie von einem Europa der Regionen zur Farce.“
Öffentliche Meinung am Wendepunkt?
Das harte Vorgehen gegen Puigdemont und andere Separatisten könnte diesen am Ende nützen, meint Dnevnik:
„In Katalonien ist ein Großteil der öffentlichen Meinung noch immer für den Dialog und für den Verbleib in Spanien. Die Verhaftungen der katalanischen Politiker, die potenziell langwierigen und spektakulären Prozesse und möglichen drakonischen Hafturteile könnten die öffentliche Meinung aber umschwenken lassen. Und das würde denen, die hinter Gittern sitzen, und ihren Ideen zugutekommen. Geschieht dies, dann schwindet auch das wichtigste Element, das im letzten Jahr den katalanischen Unabhängigkeitsversuch zum Scheitern brachte - die Uneinigkeit der katalanischen Bewohner selbst.“
Europäisierung des Katalonienkonflikts
Auch El Periódico de Catalunya glaubt, dass die Angelegenheit den Separatisten zugutekommen könnte:
„Die Internationalisierung des Unabhängigkeitsprozesses ist, zumindest auf juristischer Ebene, eine Tatsache. Denn die spanischen Anträge werden vor deutschen, belgischen, schottischen und schweizerischen Gerichten debattiert - ob sie nun angenommen oder abgewiesen werden. Kataloniens Politiker werden jetzt einerseits gegen die Entscheidungen des [im Fall Puigdemont federführenden Richters] Pablo Llarena vorgehen und andererseits die Qualität der spanischen Demokratie an sich infrage stellen, indem sie aufzeigen, dass Politiker für politische Entscheidungen verfolgt werden.“
Auslieferung wäre richtig
Das Argument, Puigdemont werde politisch verfolgt, hält einer ersthaften Überprüfung nicht stand, kommentiert der Tagesspiegel:
„Wie erklärt sich dann, dass Puigdemonts Separatistenbewegung überall in Spanien, sogar mittels ihrer Abgeordneten im spanischen Parlament, ohne Probleme für die Unabhängigkeit Kataloniens eintreten können? Dies geschieht täglich und tausendfach und ist auch in Spanien durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Man kann es nicht deutlich genug sagen und deswegen wurde dies auch durch Spaniens Verfassungsgericht mehrfach klargestellt: Es ist kein Verbrechen, die Unabhängigkeit einer Region wie zum Beispiel Kataloniens anzustreben. Aber dies muss stets mit legalen Mitteln geschehen. Und nicht mit eklatanten Gesetzesbrüchen und entgegen zahlreicher Gerichtsverbote, wie es, den Ermittlern zufolge, Puigdemont im vergangenen Jahr versucht hatte.“
Europas Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel
Dass die Angelegenheit eine europäische Tragweite hat, betont die katalanische Tageszeitung El Punt Avui:
„Die Entscheidung Deutschlands über eine mögliche Auslieferung des Ministerpräsidenten Puigdemont - oberste und vom Parlament gewählte Autorität in Katalonien - kann man nicht als bilaterale Angelegenheit betrachten. Wir haben es mit einem europäischen Dilemma zu tun, mit Auswirkungen auf die ethische und moralische Legitimität der EU im internationalen Kontext. Dabei kann es zu Konflikten mit anderen Ländern wie Belgien, der Schweiz und Schottland kommen, die ebenfalls über exilierte Katalanen zu entscheiden haben. ... Die Entscheidungen der europäischen Staaten in Bezug auf die exilierten Katalanen werden Folgen für die demokratischen Grundlagen Europas haben.“
Merkel sichert sich Spaniens Solidarität
Gut möglich, dass Berlin Madrid mit der Festnahme von Puigdemont letztlich einen Bärendienst erweist, warnt der Brüssel-Korrespondent von La Stampa, Stefano Stefanini:
„Für die unzähligen Herausforderungen, die die EU erwarten, braucht Merkel eine starke, solidarische Einheit. Die Achse mit Paris ist ausgemachte Sache, doch bedarf es eines Ausgleichs für den ungestümen Charakter von Emmanuel Macron. Merkel braucht Spanien und mit der Festnahme des flüchtigen Carles Puigdemont hat sie sich die ewige Dankbarkeit von Mariano Rajoy gesichert. ... Doch wer wird am Ende davon profitieren? ... Bisher hat Puigdemont vergeblich versucht, sich in der EU Gehör zu verschaffen. Dies könnte sich mit der Festnahme und dem Prozess jedoch ändern. Mariano Rajoy könnte es noch bereuen, Puigdemont nicht in der Vergessenheit des belgischen Exils gelassen zu haben.“