Was folgt auf die Giftgasattacke in Syrien?
Die USA, Frankreich und Großbritannien wollen binnen Tagen über eine gemeinsame Reaktion auf den mutmaßlichen Chemiewaffenangriff des Assad-Regimes auf Ost-Ghouta entscheiden. Russland erklärte, Rebellen hätten den Angriff inszeniert, bei dem nach Auskunft der Hilfsorganisation Weißhelme 42 Menschen starben. Die Glaubwürdigkeit der Drohungen und die Zukunft Assads beschäftigen die Kommentatoren.
Klassisches Ablenkungsmanöver
Trump ist nicht der erste US-Präsident, der mit einem Militäreinsatz im Ausland von internen Problemen ablenken könnte, erinnert der Washington-Korrespondent von La Repubblica, Vittorio Zucconi:
„Syrien bombardieren, um Bomben zu entschärfen, die von juristischer Seite her zu explodieren drohen. ... Das würde bedeuten, die zynische und gewalttätige Linie wiederaufzunehmen, derer sich schon Bill Clinton bediente, um das Gespenst seiner Praktikantin Monica Lewinsky auszutreiben. ... Ein paar Tote in fernen Ländern zu riskieren, gehört zum klassischen Kalkül von Mächtigen, die in ihren eigenen vier Wänden bedroht sind. Erst recht, wenn dem Bedrohten ein solch gigantischer Militärapparat zur Verfügung steht wie Trump. Da er weder die Marines noch Raketen gegen den Inquisitor Bob Mueller schicken kann, muss er sie auf die syrische Wüste richten, um von den Ermittlungen abzulenken.“
Das Morden geht ungestraft weiter
Trumps Drohungen gegen Assad sind bloß leere Worte, klagt Karar:
„Es macht keinen Sinn, die Hoffnung zu nähren, dieses Mal würde Assad für seine Taten einen teuren Preis zahlen - denn er wird nicht einmal einen Schaden an seinem kleinen Finger nehmen. ... Seit wie vielen Tagen werden in Ost-Ghouta Zivilisten inklusive Babys in Windeln ermordet? ... Wie viele Wochen sind vergangen, seit der UN-Sicherheitsrat für eine Waffenruhe in Ost-Ghouta stimmte? 40 Tage. ... Als ob der Mörder Assad jemals den Preis für die 400 in Ost-Ghouta brutal ermordeten Zivilisten bezahlt hätte und nun für das jüngste Massaker bezahlen würde. Als ob Assad erst gestern begonnen hätte, in Syrien Massaker zu begehen und chemische Waffen einzusetzen. Seit sieben Jahren mordet Assad, seit sieben Jahren setzt er chemische Waffen ein.“
Russland könnte Assad fallen lassen
Nun ist die Zukunft Assads als syrischem Machthaber keinesfalls gesichert, analysiert der Politologe Heorhij Kuchalejschwili auf dem Onlineportal 112.ua:
„Die USA und Frankreich haben zwar aufgehört, zu seinem Sturz aufzurufen, da er berechenbarer ist als die Alternative der radikalen Extremisten, von denen es zu viele in Syrien gibt. Doch hat niemand vor, die Augen vor der Anwendung chemischer Waffen durch Assad zu verschließen. Genau so wenig wie vor seinen Versuchen, auf gewaltsamem Wege alle Territorien von der Opposition zurückzugewinnen. ... Wenn er diese Linie fortsetzt, dann wird er weder für Russland noch für den Westen von Vorteil sein. Für den Kreml ist es dann einfacher, eine Palastrevolte in Damaskus zu organisieren und an Assads Stelle einen berechenbareren Baath-General zu setzen, der keine Chemiewaffen einsetzen und das internationale Image Russlands nicht diskreditieren wird.“
Einheit Syriens dem Frieden opfern
Ein Zukunftsszenario für Syrien entwirft Latvijas avize:
„Syrien wird zu einem politisch bunten Flickenteppich, die Verwaltung, Polizei, Armee und die Finanzbehörden werden in mehrere Gebiete aufgeteilt. Das wäre zumindest ein Garant für einen kurzfristigen Frieden und eine mehr oder weniger stabile Ordnung, in der die Einwohner nicht mehr leiden und die Flüchtlingsströme nicht mehr Europa gefährden. Und so wird es auch kommen. Im schlimmsten Fall flackern in dem konfliktgeladenen Land immer wieder Bürgerkriegsherde auf, die durch ausländische Interessen und muslimische Extremisten verstärkt werden.“
Die Opfer werden instrumentalisiert
Die große öffentliche Empörung macht Avvenire misstrauisch:
„Aus taktischer Sicht ist der Einsatz von Chemiewaffen nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv. Denn er lädt förmlich zu einem Militäreinsatz gegen die Kräfte ein, die den Krieg bereits für sich entschieden haben. Die Wahrheit ist schwer auszumachen. Doch kann man schwerlich übersehen, wie sehr die Empörung über die Opfer der Giftgase im Kontrast steht zu dem geringen Interesse gegenüber dem täglichen Massaker an der syrischen Bevölkerung - mit konventionellen Waffen oder, schlimmer noch, durch das Fehlen von Nahrungsmitteln, Wasser und ärztlicher Hilfe. Wer laut über die Chemieattacken zetert, scheint sich wenig um die tägliche Vernichtungsmaschine, um die Toten, die Verletzten, die Flüchtlinge zu kümmern. Dies schürt den Verdacht, dass auch die Toten nur für strategische Interessen instrumentalisiert werden.“
Unbeholfene Ausweichmanöver der Europäer
Die Reaktionen auf den mutmaßlichen Giftgasangriff sind heuchlerisch, kritisiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Dass die Europäer nun an den Uno-Sicherheitsrat appellieren, dasselbe Gremium, das Russland mithilfe seines Vetorechts zu einem zahnlosen Tiger degradiert hat, wirkt unbeholfen. Nur eine Demonstration robuster Macht könnte Assad davon abhalten, die eigene Bevölkerung abzuschlachten - doch der Wille dazu fehlt weitgehend. Vor einem Jahr ordnete der amerikanische Präsident Trump als Vergeltung für das Massaker von Khan Sheikhun einen Luftangriff auf eine syrische Militärbasis an. Die Aktion wurde von Kritikern als ungerechtfertigt dargestellt, aber sie erreichte ein nicht unbedeutendes Ziel: Die Angriffe der syrischen Truppen mit dem Nervengift Sarin hörten schlagartig auf, wenigstens einige Menschenleben konnten dadurch gerettet werden.“
Guter Grund, in Syrien zu bleiben
Der Zeitpunkt des Giftgasangriffes scheint kein Zufall, findet Milliyet:
„Gerade, als Donald Trump die Entscheidung trifft, aus Syrien abzuziehen, überzeugt Assad ihn mit dem Einsatz von Giftgas, in Syrien zu bleiben! ... Trump erklärte am 29. März, aus Syrien abzuziehen. Am 7. April ereignete sich der Giftgasangriff in Douma in Ost-Ghouta. Der Einsatz von Giftgas ist ein Kriegsverbrechen. Aber um ihn zu verurteilen, muss man zunächst einen Schuldigen finden. Das ist die Aufgabe von unabhängigen Beobachtern. Aber die USA verhalten sich wie immer. Bevor der Vorfall aufgeklärt ist, beschuldigen sie Syrien und Russland.“
Trump sucht direkte Konfrontation mit Putin
US-Präsident Donald Trump hat in der Krise nach den mutmaßlichen Chemiewaffenangriffen in seinen Tweets erstmals Putin direkt gedroht. Der Ton wird rauer, beobachtet De Telegraaf:
„Im Wahlkampf hatte Trump immer gesagt, einen Dialog mit Putin zu wollen. ... Später wurden zwar Sanktionen gegen die Clique um Putin verhängt, aber vom russischen Präsidenten selbst hielt sich das Weiße Haus fern. Jetzt macht Trump Putin öffentlich verantwortlich für die Unterstützung des 'Tieres Assad'. Und Trump will offensichtlich seinen Ton nicht mehr mäßigen, vor allem jetzt nicht, wo ihn immer mehr Falken umringen, wie [Sicherheitsberater] John Bolton und [der neue Außenminister] Mike Pompeo.“
Der ganzen Region droht die Katastrophe
Dass sich der Syrienkrieg durch eine unüberlegte Reaktion der USA auf die mutmaßlichen Giftgasangriffe auf die ganze Region ausweiten könnte, fürchtet ABC:
„Nach sieben Jahren Krieg kann man sich kaum vorstellen, dass sich die Lage in Syrien noch verschlechtern könnte. Aber sie kann sich verschlechtern, sehr sogar. ... Der Schlag, den die US-Regierung vorbereitet, muss wohlüberlegt sein. Denn in diesem Moment könnte jeder Fehler katastrophale Folgen für die Region haben. Einen qualvollen Bürgerkrieg in einen regionalen Konflikt oder etwas noch Größeres zu verwandeln, hilft niemandem. Vielleicht ist es zu spät, Assad zum Verhandeln bestimmter Dinge zu bewegen. Aber es ist früh genug, zu verhindern, dass sich das unendliche Leid der Syrer auf weitere Staaten der Region ausbreitet.“
Eine "rote Linie" gibt es schon lang nicht mehr
Hospodářské noviny nennt den neuerlichen Giftgas-Anschlag Assads eine höhnische Begleitmusik zum angekündigten Rückzug der USA aus Syrien:
„2013 zog Obama noch eine 'rote Linie', die Damaskus nicht überschreiten dürfe. Assad tat dies, ohne dass etwas geschah. Der danach unter US-amerikanischem und russischem Patronat ausgehandelte Vertrag, nach dem Syrien seine C-Waffen aufgeben sollte, ist nicht mehr als ein Fetzen Papier, wie wir jetzt sehen. Eine 'rote Linie' gilt schon lange nicht mehr - nur noch russischen Zynismus und amerikanischen Isolationismus. Vor ein paar Tagen hat Trump den Abzug der USA aus Syrien angekündigt. Sollte der ausgerechnet jetzt kommen, droht eine neue amerikanische Blamage historischen Ausmaßes.“
Staatsterror als ultimative Abschreckung
Assad setzt auf die Strategie des Terrors, um sich seine Zukunft zu sichern, analysiert La Stampa:
„Der Terror ist eine langfristige psychologische Waffe. Das hat Assad von seinem Vater gelernt. 1982 belagerte das syrische Heer die Stadt Hama, die den Aufstand gewagt hatte. ... Die Stadt wurde zerbombt, Haus für Haus durchkämmt und mit Planierraupen plattgewalzt. Die Zahl der Toten schwankt zwischen 20.000 und 40.000. Jahrelang funktionierte in Syrien Hama als Abschreckung gegen jede Form der Opposition. Bis 2011, dem Beginn des Bürgerkriegs. ... Angriffe mit Chemiewaffen kommen in der Vorstellung des Diktators einer Zukunftssicherung gleich. Sie neutralisieren jeden Gedanken an einen Aufstand. So wie die Römer - symbolisch - Salz auf Karthago streuten, auf dass die Stadt, die gewagt hatte sich zu erheben, für immer unfruchtbar bleibe.“