Juncker wünscht Europa mehr Mut
In seiner letzten Rede zur Lage der Union appelliert Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker unter anderem an das Selbstbewusstsein der EU. Europa müsse „weltpolitikfähig“ werden und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Kommentatoren beschäftigen sich mit den aus ihrer Sicht drängendsten Problemen der EU.
Freihandel mit Afrika ist richtiger Weg
Junckers Forderung nach besseren Handelsbeziehungen mit Afrika ist richtig, erklärt Sydsvenskan:
„Historisch gesehen waren die Beziehungen der EU zu Afrika kaum von Offenheit geprägt. Neben den direkten Zöllen auf afrikanische Waren haben die Agrarsubventionen der Union die Weltmarktpreise gedrückt, so dass die afrikanischen Landwirte nicht wettbewerbsfähig sind. ... Doch es wird Zeit, Chancen statt Probleme zu sehen. Ein verstärkter Handel mit afrikanischen Ländern kann die Migration über das Mittelmeer verringern. Freihandel mit Afrika bietet zudem die Möglichkeiten für die EU, ihre Position in der Weltwirtschaft zu stärken. ... 'Afrika braucht keine Wohltätigkeit, sondern eine echte und faire Partnerschaft. Und Europa braucht diese Partnerschaft ebenso', betonte Juncker. Diese Einsicht sollte umgehend zu einem großen Freihandelsabkommen führen.“
Nicht die Migranten sind das Problem
Die Flüchtlingsfrage ist nicht das größte Problem der EU findet János Kendernay, Mitglied des Vorstands der ungarischen Grünen, auf dem Portal Mérce:
„Europa ist aus dem Gleichgewicht geraten. Beim letzten Erweiterungsprozess ist die Zahl der Mitgliedsstaaten fast auf das Doppelte gestiegen. Die EU hat mehr als 10 Millionen neue Bürger, mit schwacher Wirtschaftsleistung und einige unterentwickelte Regionen 'dazugewonnen'. Die Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie sind deutlicher geworden und das nicht nur in der Krise von 2008. Vor uns liegt ein neuer Berg an Problemen, den wir Freizügigkeit der Arbeitskräfte nennen, wobei wir in Wahrheit aber an das Absaugen von Arbeitskräften denken. Das ist nichts anderes als die Ausbeutung der Ressourcen von Europas Peripherie.“
EU ist stärker als gedacht
Trotz des Brexit und einer dringend nötigen Reform der europäischen Währungsunion ist der spanische Journalist Xavier Vidal-Folch in seinem Gastbeitrag in La Repubblica optimistisch:
„Diejenigen, die dem Euro neue Lebenskraft verleihen wollen, werden sich nicht unterkriegen lassen von denjenigen, die an seinen aktuellen Unzulänglichkeiten festhalten wollen. ... Was den Brexit angeht, so hängt das Ergebnis vom Grad des Chaos in der britischen Politik ab. Doch scheint die Vernunft wieder über die Irrationalität zu siegen. Die Anhänger des soften Soft-Brexit haben eine Kampagne gegen die Verfechter eines harten Brexit gestartet. Es gibt Hoffnung auf längere Verhandlungen, und - wie wir wissen - hat die EU viele Erfahrung mit endlosen Verhandlungen und nächtlichen Absprachen.“
Das Dilemma der Europäischen Union
Wie die Zukunft der EU gesichert werden kann, erklärt Erik Bjerager, Chefredakteur von Kristeligt Dagblad:
„Nur das Gleichgewicht zwischen Nationalstaaten und europäischer Zusammenarbeit kann der Welt ein Modell für Stabilität und eines für den Respekt vor Demokratie und den Menschenrechten bieten. ... Die massive Kritik des EU-Parlaments an Ungarn spiegelt dieses Dilemma wieder. Besonders die osteuropäischen Länder sind damit beschäftigt, ihre nationalen Erkennungsmerkmale zu sichern, die während der Sowjetzeit bedroht waren. Die EU war für sie die Garantie für das Überleben des Nationalstaats, nicht der Weg zu dessen Auflösung. Die EU ist auf dem Weg in eine neue Epoche und verdient mitten in aller Kritik die volle Unterstützung. Es gibt keine Alternative zur europäischen Zusammenarbeit.“
Angst ist kein guter Ratgeber
Nur ein selbstbewusstes Deutschland ist der Entwicklung der EU dienlich, betont der sozialistische EU-Abgeordnete Carlos Zorrinho in Jornal i:
„Es ist noch nicht allzu lange her, dass EU-Mitgliedsstaaten wie Portugal gute Gründe hatten, Berlins Überheblichkeit bei der Lösung von Probleme in der EU zu kritisieren. Insbesondere, weil man öfter den solidarischen und konvergenten Ansatz außer Acht gelassen hat, der den aufgezwungenen Lösungen mehr Kohärenz verliehen hätte. Heute stehen wir vor der umgekehrten Situation: Deutschland wirkt bei wichtigen politischen Entscheidungen wie dem Migrationsmanagement, der Sicherheit der EU oder der Handelsliberalisierung vor Angst wie gelähmt. ... Die EU braucht aber keine Angst zu haben und insbesondere Deutschland muss den Mut haben, erneut an vorderster Front die EU-Reformagenda umzusetzen.“
Europa muss mächtiger werden
Junckers Plädoyer für eine stärkere EU ist richtig, führt NRC Handelsblad aus:
„Europa ist nicht nur ein Binnenmarkt, sondern auch wichtiger Akteur auf der Weltbühne. Doch es schreckt davor zurück, sich als solcher zu definieren. Europa brüstet sich gerne mit seiner Softpower, muss aber selbstbewusster werden. ... Juncker hat zurecht versucht, Europas Selbstbewusstsein anzustacheln: Die Einheit ist nicht nur ideelles Motiv, sondern Machtfaktor. ... Es ist eine Illusion zu glauben, dass die EU bald ein mächtiger Akteur sein wird. Aber es wird höchste Zeit, dass Europa lernt, in Begriffen von Macht zu denken und zu handeln. Das ist notwendig, um die europäischen Interessen zu verteidigen. Der Kampf um Werte und Normen muss inzwischen sowohl nach innen als auch nach außen geführt werden. Wenn die EU das nicht tut, wer dann?“
Orbán hat es leichter als Juncker
Die Europa-Diskurse von Orbán und Juncker vergleicht Bartosz T. Wieliński, Chef des Auslands-Ressorts von Gazeta Wyborcza:
„Ich habe Juncker zugehört, der eine Stunde lang sein Programm für die kommenden acht Monate vorgestellt hat. Er hat nicht mitgerissen. ... Dargestellt in der Rhetorik Orbáns weckt Europa dagegen Emotionen: Es ist ein Feind, ein Klub der Starken, der die schwächeren Länder ausquetscht, der Verschwörungen produziert und den Bürgern seinen Willen aufzwingen will. ... Dieses Europa, beziehungsweise die Verachtung dafür, verkauft sich leicht. ... Aber Orbáns Europa ist nur die Ankündigung, die bisherige Ordnung einzureißen - ohne eine Garantie, dass irgendetwas auf ihren Trümmern entsteht. Junckers Europa reißt nicht mit und ist nicht perfekt. Aber es ist real und es funktioniert.“
Ein ewiges Lamentieren
Junckers Rede ist realitätsfern, kritisiert Públicos langjährige Brüssel-Korrespondentin Teresa de Sousa:
„Im besten Fall war sie ein langes Lamentieren über den Zustand der EU. Im schlimmsten Fall ein Symptom der politischen Blindheit, welche die Brüsseler Eurokratie befallen hat wie kein anderes Herrschaftssystem. ... Aber nichts rechtfertigt eine so große Entfernung von der Realität. ... Er redet über Verteidigung - aber nicht über die Bedrohungen. … Er warnt vor dem Nationalismus - erwähnt aber Ungarn kein einziges Mal. ... Er spricht von einem 'starken und vereinten' Europa - zu einer Zeit, wo Europa geschwächt und gespalten ist, wie nie zuvor. Euractiv hat es so zusammengefasst: 'Juncker schaut nach draußen, um die Probleme zu Hause zu vergessen.'“
Rede zur Notlage der Union
Eine traurige Vorstellung war Junckers Rede für den Tages-Anzeiger:
„Die Situation in Ungarn oder auch in Polen sagt mehr aus als Junckers Worte zur Lage der Union. Es ist schon eher eine Notlage, die es da zu beschreiben gäbe. So war diesmal beim jährlichen Fixtermin vor dem EU-Parlament die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders gross. … Anders als der US-Präsident, von dem die Europäer einst die Idee der Rede zur Lage der Union abgeschaut haben, kann Juncker immer nur vorschlagen und hoffen, dass die Mitgliedstaaten mitmachen. Er liebe Europa noch immer und so werde es immer bleiben, sagte der Kommissionschef. Das klang schon sehr nach einem Vermächtnis.“
Europäer verdienen echte Debatte
Juncker will die vernünftigen EU-Skeptiker von den unbelehrbaren Extremisten trennen. L’Echo lobt Junckers Einstellung als
„Weigerung, die Wahlkampfdebatte einzuzwängen in einen sterilen Gegensatz zwischen dem Europa der Werte und dem Europa der bornierten Nationalismen. ... Acht Monate vor der Wahl hängt die Mehrheit der Europäer an ihrer europäischen Bürgerschaft und blickt alles in allem optimistisch auf die Zukunft Europas sowie voller Vertrauen sowohl auf die Gemeinschaftsinstitutionen als auch auf die Institutionen in ihrem eigenen Land. Sie verdienen eine Grundsatzdebatte über die Herausforderungen, die Europa nur vereint effizient bewältigen kann: Stabilität in seiner Nachbarschaft schaffen, den Multilateralismus verteidigen und den Umweltkollaps verhindern.“