Machtkampf in Venezuela: Europa ist uneins
Mehrere europäische Länder und EU-Institutionen treiben den Machtwechsel in Venezuela voran. Sie erkannten Parlamentschef Guaidó als Übergangspräsidenten an und richteten eine Kontaktgruppe mit anderen lateinamerikanischen Staaten ein. Doch die Reihen in Europa sind keinesfalls geschlossen und das ruft die Kommentatoren auf den Plan.
Zwei Lager treffen aufeinander
Die Krise in Venezuela offenbart einen grundlegenden Umbruch in den internationalen Beziehungen, analysiert Politologe Frédéric Charillon in L'Opinion:
„Das eine Lager glaubt weiterhin (mit einer unterschiedlich ausgestalteten Mischung aus Ehrlichkeit und Zynismus) an Interventionismus, Regimewechsel und Druck von außen zur Unterstützung interner gesellschaftlicher Präferenzen. … Das andere ist überzeugt, dass der Staat vor Ort der einzig legitime Akteur ist, ganz gleich, welche Fehler oder Gewaltakte er begeht, und dass jeglicher Eingriff von außen Chaos auslöst. … Wir erleben einen fundamentalen Paradigmenwechsel, der sich allerdings nicht mit den Vorstellungen zeitgenössischer Analysten deckt und der beinahe etwas Philosophisches hat. Denn er betrifft nichts Geringeres als die Rolle des Staats, den Ursprung der Legitimität und die Grundsätze der internationalen Stabilität.“
USA fürchten Enttarnung
Am Donnerstag tritt erstmals die Kontaktgruppe aus EU- und lateinamerikanischen Staaten zusammen, die mit Maduro verhandeln will. Nicht jedem gefällt das, bemerkt Iswestija:
„Diese Verhandlungen unter EU-Ägide zeugen davon, dass die EU nicht zu 100 Prozent die Linie der USA zum Sturz Maduros verfolgt (abgesehen von einzelnen Ländern, etwa Frankreich). Einige EU-Staaten wie Italien sind überhaupt gegen jegliche Einmischung in die Angelegenheiten Venezuelas. Die Maduro-Regierung bekommt mit diesen Verhandlungen eine gute Bühne für die Verbreitung ihrer legalen Position und die Enttarnung der USA. Deshalb ist klar, dass für die USA jegliche Verhandlungen - in der Kontaktgruppe oder zwischen Maduro und der Opposition - unvorteilhaft sind. Washington wird versuchen, sie zu torpedieren und zu diskreditieren.“
Aversion gegen Spielregeln der Demokratie
Die italienische Regierung erkennt Juan Guaidó nicht als Übergangspräsidenten Venezuelas an. Man hoffe auf eine freie und transparente Neuwahl und respektiere dabei den Grundsatz der Selbstbestimmung, hieß es am Montag aus Rom. Kolumnist Gianni Riotta versucht in La Stampa, diese Haltung zu erklären:
„Weit davon entfernt, zwei scharfsinnige und pragmatische Führungskräfte zu sein, sind [Lega-Chef] Salvini und [Cinque-Stelle-Chef] Di Maio gleichermaßen allergisch gegen liberale Ideen der Demokratie. ... Dabei bewegt sich die Lega seit langem im Umkreis von Putins Russland. Und Putin war, zuerst für den Caudillo Chavez, dann für dessen Erben Maduro, Modell, Chef und Beschützer zugleich. Was die Cinque Stelle betrifft, so nährte sie von Anfang an eine impulsive Abneigung für die Dialektik der Demokratie, gepaart mit einer militanten Leidenschaft für starke Männer.“
Venezolaner müssen ihre Probleme allein lösen
Vor einer ausländischen Intervention warnt eindringlich The Guardian:
„Der Drang, helfen zu wollen, ist natürlich. Nichts zu tun, kann schmerzhaft sein und hartherzig wirken. Doch ein Eingreifen bringt nur selten etwas. Staaten sind auch dann eigenständig, wenn sie sich in politischen Turbulenzen befinden. Sie müssen ihre eigenen Fehler machen und wiedergutmachen. Das wird sie letztlich stärken. Das Regime in Caracas ist mit innenpolitischem Druck konfrontiert, der es möglicherweise stürzen wird. Eine Intervention von außen ist seine letzte große Hoffnung. Wie würden wir Briten reagieren, wenn Nicolas Maduro uns belehrte, wie wir unser Brexit-Chaos lösen sollten, oder wenn Donald Trump uns anböte, eine Mauer an der irischen Grenze zu bauen?“
EU darf sich nicht an Trump halten
Die EU schlägt sich auf die falsche Seite, findet die regierungstreue Tageszeitung Daily Sabah:
„Niemand wird heutzutage Trump seine 'demokratischen Motive' für Venezuela abkaufen. Seit Chavez gab es in Venezuela eine lange Tradition, die Neo-Con-Regierungen in den USA zu verteufeln. Als Reaktion darauf ist Venezuela beinahe ein 'neues Kuba' für die US-amerikanische Rechte geworden. ... Die Situation ist sehr verworren, und alle Beobachter sind sich einig, dass die venezolanische Armee das letzte Wort haben wird. Es war eine sehr schlechte Idee der EU-Länder, sich mit Trump zusammenzutun, indem sie über die Solidarität innerhalb der EU hinwegsahen und glaubten, dass ein Ultimatum - von Maduro offen abgelehnt - zur Lösung der bestehenden Probleme beitragen könnte.“
Ohne Druck keine Hoffnung für die Zukunft
Die Neue Zürcher Zeitung hält Kritik an der Anerkennung Guaidós als Übergangspräsidenten sowie der Einmischung der USA hingegen für verfehlt:
.„Beim Fehlen eines legitimen Präsidenten muss der Parlamentspräsident als Interimspräsident neue Wahlen durchführen. Guaidó ist zudem der höchste amtierende Politiker, der durch demokratische Wahlen ins Amt kam. Zweitens handelt es sich diesmal nicht um einen Einzelgang der Amerikaner. … Drittens wurden bis jetzt von aussen keine militärischen Mittel eingesetzt. … [Es] hat sich gezeigt, dass die Venezolaner sich ihrer Hungerdiktatur nicht aus eigener Kraft entledigen können, solange sich alle Waffen auf der Seite Maduros befinden. Sie sind auf den Druck der demokratischen Länder angewiesen, wenn sie wieder Hoffnung für die Zukunft haben wollen“
Mit dem Tyrannen gibt es nichts zu verhandeln
EU-Außenbeauftragte Mogherini hatte vergangene Woche angekündigt, eine Kontaktgruppe bestehend aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Bolivien und Ecuador zu gründen. Diese solle Verhandlungen mit Maduro führen. ABC wünscht sich eine klarere Haltung:
„Die Anerkennung Guaidós bedeutet den Bruch mit dem Chavismus in all seinen Konsequenzen. Das macht weitere Maßnahmen nötig, um den Fall von Maduro zu beschleunigen. Man kann nicht Guaidó als rechtmäßigen Präsidenten anerkennen und gleichzeitig darauf hoffen, dass man mit dem Tyrannen noch über etwas anderes verhandeln kann als über das Verlassen des Landes. Denn sonst könnte der gestern angekündigte Schritt die Lage des gebeutelten Landes noch schwerer machen. In diesem Sinne sind die Verhandlungen, die nun durch die sogenannte 'Kontaktgruppe' angestoßen werden, nicht gerade die beste Idee der Hohen EU-Vertreterin Federica Mogherini.“
Auch Guaidó unter die Lupe nehmen
Nur weil Juan Guaidó jung und sympathisch ist, muss man noch lange nicht bedingungslos Partei für ihn ergreifen, findet die Süddeutsche Zeitung:
„[Guaidós] Hintermann Leopoldo López ... ist ein Scharfmacher, der im Hausarrest sitzt, weil die Regierung ihm - wohl nicht zu Unrecht - vorwirft, die Verantwortung für schwere Krawalle zu tragen. Hinzu kommt, dass die Begründung, mit der Guaidó sich zum Präsidenten erklärte, Fragen aufwirft. Er beruft sich auf die Verfassung, in der steht: Wenn in Venezuela das Präsidentenamt vakant ist, dann ist der Parlamentspräsident eben Staatspräsident - bis zur nächsten Wahl. Aber vakant ist der Präsidentensessel nicht. Dass Maduro darauf wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl 2018 zu Unrecht sitzt, kann und muss man ihm vorwerfen. Aber darf man ihn deshalb aus dem Amt entfernen?“
Alles spricht gegen US-Militärintervention
Warum Washington wohl kaum direkt in Venezuela eingreifen wird, erklärt Malta Today:
„Nicolas Maduro genießt immer noch die Unterstützung der Streitkräfte. Und solange diese ihm treu bleiben, wird er wohl weiterregieren. Es gab Hinweise darauf, dass die Trump-Administration eine Militärintervention gegen Maduros Regierung in Erwägung ziehe. Doch weniger als 20 Prozent der Venezolaner unterstützen ein ausländisches militärisches Eingreifen. Außerdem haben Russland und China keinen Zweifel daran gelassen, dass sie hinter Maduro stehen. Angesichts ihrer umfangreichen Investitionen in die Ölproduktion des Landes in den vergangenen Jahren würden sie jedem Schritt der USA entgegentreten, der ihren Einfluss auf die Zukunft des Landes verringert.“
USA erhöhen wirtschaftlichen Druck
Die USA machen sich die Exportabhängigkeit Venezuelas zunutze, meint Andriy Karakuts vom Kiewer Zentrum für angewandte Forschungen in einem Beitrag für Dserkalo Tyschnja:
„Am 29. Januar blockierte Washington alle Aktiva der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA in den USA. Gleichzeitig verbot die Trump-Administration es amerikanischen Firmen, Transaktionen mit der Tochtergesellschaft der PDVSA, der in Texas registrierten Citgo, zu tätigen, weil diese Gesellschaft von Maduro kontrolliert wird. Diese Entscheidung betrifft einen Anteil von 40 bis 45 Prozent der venezolanischen Öl-Exporte. … Insgesamt kommen 95 Prozent der Einnahmen des Haushalts des Maduro-Regimes aus Energieressourcen. Den Ausfall nun durch andere Abnehmer zu kompensieren, ist praktisch unmöglich, sind doch drei Viertel des venezolanischen Öls Schweröl. Und das wird vor allem in den USA verarbeitet.“
Beistand für den Richtigen
Die Unterstützung aus Europa für Juan Guaidó ist absolut gerechtfertigt, findet Le Point:
„Maduro und seine Vertrauten haben sämtliche demokratische Legitimation verloren, seitdem sie 2017 in einer manipulierten Abstimmung ein 'alternatives' Parlament haben wählen lassen, das die Opposition ausschließt. Diese 'verfassungsgebende' Kammer hat sich die Gesetzgebungskompetenz der Nationalversammlung einverleibt, die 2015 bei den letzten einigermaßen freien Wahlen in dem Land gewählt wurde. ... Der Präsident der Nationalversammlung, Juan Guaidó, ist derzeit der einzig legitime Regierende … Seine mutige Geste hat gezeigt: Es geht nicht mehr allein um Armut, Hunger und Hyperinflation, sondern um Macht und Demokratie. Die EU-Länder, allen voran Frankreich, unterstützen ihn zurecht.“
Ungefragte Einmischung
Die Tageszeitung Dimokratia ärgert sich generell über die Einmischung des EU-Parlaments in den venezolanischen Konflikt:
„Neben all seinen anderen Funktionen dient das EU-Parlament offenbar als 'Ersatz' der nationalen Parlamente. ... Im Vorgriff auf die Entscheidung der nationalen Parlamente der EU-Länder, hat das europäische Parlament Juan Guaidó als vorläufigen Präsidenten Venezuelas anerkannt und damit sowohl in die Angelegenheiten des lateinamerikanischen Landes eingegriffen als auch indirekt eine mögliche andere Haltung der europäischen Länder offen ignoriert. Die zentrale Frage in diesem Fall ist nicht so sehr die Politik und der Staat Venezuelas selbst. Es geht vor allem um das Gefühl der Eurokraten, wonach sie in jedem Land (von Jugoslawien im Jahr 1999 bis Venezuela) alles tun können, ohne das dortige Volk zu fragen.“
Aus Fehlern im Arabischen Frühling lernen
Ohne schnelle und massive ausländische Unterstützung würde auch Juan Guaidó als Präsident schnell scheitern, warnt The Economist:
„Der Arabische Frühling hat eines gelehrt: Wenn ein neuer politischer Führer einen Tyrannen hinwegfegt, muss er schnell Verbesserungen bringen, sonst verliert er selbst die Unterstützung. Lebensmittel und die Gesundheitsversorgung haben oberste Priorität. Allein die Tatsache, dass es eine neue Regierung gibt, wird helfen, die Hyperinflation zu bremsen. Venezuela wird aber auch echte Finanzhilfe aus dem Ausland brauchen. Internationale Kreditgeber, darunter der IWF, sollten großzügig sein. Die Liste der zu erledigenden Aufgaben ist lang: Venezuela muss Preiskontrollen sowie andere Marktverzerrungen abschaffen und ein soziales Sicherheitsnetz knüpfen. Das Land muss die Ölproduktion neu anlaufen lassen, dazu gehört auch, sich für Auslandsinvestitionen zu öffnen.“
Bald hat Guaidó das Militär hinter sich
Warum Oppositionsführer Guaidó gute Chancen hat die Macht zu übernehmen, erklärt die Wochenzeitung Dilema Veche:
„Ermutigt durch die internationale Unterstützung versucht Juan Guaidó nun, die Loyalität der Armee für Nicolás Maduro bröckeln zu lassen. Das ist nicht einfach, aber auch nicht unmöglich: In den letzten Jahren haben angesichts der Armut Tausende Militärs die Armee oder auch die Nationalgarde verlassen. Guaidó hat allen Funktionären und Militärs, die sich hinter ihn stellen, Amnestie versprochen. Zudem hat er für Samstag zu einer Demonstration aufgerufen, um die Armee zu überzeugen, auf die Seite der Opposition zu wechseln und das europäische Ultimatum zu unterstützen.“