Wahl in der Ukraine: Wer macht das Rennen?
Am Sonntag wählen die Ukrainer einen neuen Präsidenten. In den Umfragen führt der Komiker Wolodymyr Selenskyj vor Amtsinhaber Petro Poroschenko und der früheren Premierministerin Julia Timoschenko. Ein zweiter Wahlgang ist wahrscheinlich. Kommentatoren analysieren, welche Rolle der Krieg mit Russland spielt und was die Menschen in Selenskyj sehen.
Ukrainer haben sich vom Kreml abgewandt
Der Wahlkampf hat gezeigt, dass die ukrainische Bevölkerung ihr Heil fast ausnahmslos in einer weiteren Hinwendung zum Westen sieht, analysiert Financial Times:
„Ein bemerkenswerter Aspekt dieser Präsidentenwahl ist, dass es keine bedeutende Unterstützung für einen pro-russischen Kandidaten gibt. Trotz der Erschwernisse und der schnell gestiegenen Energiepreise, die auf die Revolution 2014 und auf Reformen folgten, lassen nur wenige Ukrainer erkennen, dass sie sich wieder Moskau zuwenden. In der Tat haben sich die meisten Ukrainer wegen des von Russland angeheizten Kriegs im Donbass entschieden vom Kreml abgewandt. Rechtsextreme Kandidaten genießen ebenfalls wenig Unterstützung. Das führt die verlogene russische Propaganda ad absurdum, der zufolge der Aufstand 2014 ein von den USA unterstützter Neonazi-Putsch gewesen sei.“
Keine Unterstützung aus Moskau
Pro-russische Kandidaten sind bei dieser Wahl chancenlos, beobachtet auch Gazeta Wyborcza:
„Heute kann Moskau auf keinen Kandidaten in Kiew zählen. Jurij Boiko, stellvertretender Premier in der Regierung von Wiktor Janukowitsch und Führer des Oppositionsblocks, steht Moskau nahe. Der pro-russische Politiker besuchte vergangene Woche Moskau, in der Gesellschaft von Wiktor Medwedtschuk, einem Freund Putins. ... Die beiden wurden von Premier Dimitri Medwedew und Gazprom-Chef Alexei Miller empfangen. Sie versprachen ihnen, dass die Ukrainer, wenn sich ihr Land mit Moskau versöhnen würde, 25 Prozent weniger für russisches Gas zahlen müssten. Dieses Treffen kann jedoch nicht als Unterstützung Moskaus für die Kandidatur von Boiko betrachtet werden. Es wäre eine falsche Investition, weil der pro-russische Politiker nicht einmal die Chance hat, in den zweiten Wahlgang zu kommen.“
Ein neuer Beppe Grillo
Wolodymyr Selenskyj könnte es am Sonntag in die Stichwahl schaffen. Das Profil des Kabarettisten ist nicht ganz neuartig im europäischen Politkosmos, erläutert der Politologe Cyrille Bret in Le Figaro:
„Ablehnung der traditionellen Eliten, Misstrauen gegenüber der Oligarchie, Erosion der bisherigen politischen Trennlinien und Auftauchen unerwarteter Figuren - ein Trend, den man überall in der EU beobachten kann. Beppe Grillo ist die naheliegendste Gestalt, um das Phänomen Selenskyj zu analysieren: ein Mann aus dem Showbiz, ohne politische Erfahrung, der eine politische Bewegung gründet, mit den traditionellen Parteien bricht und die etablierten Eliten kritisiert. ... Angesichts seines jungen Alters kann Selenskyj auch an neue Gesichter unter den politischen Schwergewichten erinnern wie Pablo Iglesias in Spanien, Robert Biedron in Polen und natürlich Emmanuel Macron in Frankreich.“
Finger weg von außenpolitischen Abenteuern
Alle Kandidaten streben eine Änderung der Außenpolitik an. Der Journalist Boris Bachteew warnt in Nowoje Wremja vor Radikalität:
„Mit einer Kriegserklärung an Russland würde sich die Ukraine juristisch zum Angreifer machen. Und auch wenn alle verstehen würden, dass es tatsächlich anders ist, würde es juristisch so aussehen. Dann wäre jegliche Unterstützung der Ukraine durch den Westen nicht im Einklang mit dem Völkerrecht. ... Denn der Westen müsste eine Aggression verurteilen. Und für Russland würde dies als Vorwand für eine Eskalation gut gelegen kommen: 'als Antwort' und 'zu seiner eigenen Verteidigung' hätte Russland angeblich jedes Recht, eine Großoffensive zu starten. Jetzt sind Weisheit und nicht Radikalismus gefragt. Doch bei uns hat der Radikalismus Hochkonjunktur.“
Eigentlich ist egal, wer gewinnt
Die desolate Wirtschaftslage ist nach Ansicht von Iswestija das Hauptproblem der Ukraine - doch genau da unterscheiden sich die Programme der drei Favoriten nicht:
„Wie ein Mantra wiederholen sie die Worte von der Alternativlosigkeit der 'fruchtbaren Zusammenarbeit' mit dem IWF und der Vertiefung und Ausweitung der Handelsbeziehungen zur EU. ... Ausgehend von offiziellen Daten zur ukrainischen Wirtschaft kann man allerdings festhalten, dass ohne eine radikale strukturelle Veränderungen und ohne eine Neuausrichtung auf die traditionellen Märkte in den kommenden fünf Jahren keinerlei positive Veränderungen zu erwarten sind - und das Land ein Dritte-Welt-Staat bleibt. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl zwischen Selenskyj, Poroschenko und Timoschenko nicht so entscheidend, denn ihre Ansichten zur ukrainischen Wirtschaft sind bekannt und sehen keine radikalen Änderungen vor.“
Poroschenko bietet Ukrainern keine Perspektive
Dass die Ukraine stagniert, fällt auch auf Präsident Poroschenko zurück, analysiert Rzeczpospolita:
„Poroschenko versprach den Anhängern des Maidan ein neues Leben. Doch in Wirklichkeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen und es kommt weiterhin zu Korruptionsskandalen. ... Das durchschnittliche Gehalt in der Ukraine lag im Januar bei etwas über 9.000 Griwna (knapp 300 Euro). Den gleichen Geldbetrag verdienten die Ukrainer 2013, vor der Maidan-Revolution, der russischen Annexion der Krim und der Aggression im Donbass. Der Preis für einen Kubikmeter Gas ist in der Ukraine seit 2014 allerdings auf das Achtfache gestiegen, und der Preis für Grundnahrungsmittel mindestens auf das Dreifache.“
Diese Wahl ist anders
Die kommenden Präsidentschaftswahlen unterscheiden sich in einem Punkt von allen vorherigen, bemerkt Lietuvos žinios:
„Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 war jede Präsidentschaftswahl eine Wahl zwischen zwei geopolitischen Richtungen. Zwischen West und Ost. Das Land war in zwei gleiche Teile gespalten und ein Kandidat konnte nur dann gewinnen, wenn er Wähler der anderen Seite anlockte. Dies geschah oft mit der Enthüllung von Fehltritten des Rivalen. ... Doch nach 2014, als Russland die prorussische Krim annektierte und den hybriden Krieg im Donbass startete, sind prorussische Kandidaten chancenlos. Wladimir Putin wollte die Ukraine in den russischen Orbit holen, hat aber genau das Gegenteil erreicht. Sogar in den Regionen, die früher als prorussisch galten, sehen viele Menschen Putin als den Aggressor.“