Was bedeutet die Pandemie fürs Wirtschaftssystem?
Es ist gerade zwei Monate her, dass eine Sars-CoV-2-Infektion in Europa entdeckt wurde. Inzwischen hat das Virus den Alltag und zunehmend auch die Wirtschaft fest im Griff, die Staaten diskutieren angemessene Hilfen und Eurobonds. Der Markt kann sich in Krisenzeiten nicht selbst regulieren, meinen einige Kommentatoren. Andere warnen vor Protektionismus oder hoffen gar auf eine Rosskur.
Verstaatlichung nur mit Ausstiegsszenario
Die Presse hält Notverstaatlichungen in der Corona-Krise für sinnvoll, warnt aber vor einem ungeplanten Systemwechsel:
„Die Idee ist nicht ganz neu und prinzipiell auch nicht ganz dumm. ... [Aber w]enn erst einmal eine Art Corona-Treuhand ein quer durchs Gemüsebeet reichendes großes Industrieportfolio hat, dann ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Politik auf den Geschmack kommt und Unternehmer zu spielen beginnt. Im Verein mit den in Staatsbetrieben üblichen Parteibuch-Managementbesetzungen ist das ein ernst zu nehmendes Risiko für den gesamten Wirtschaftsbereich und den nach Corona noch vorhandenen Wohlstandsrest. Es wäre also wichtig, dass die Staaten bei der anstehenden Notverstaatlichungswelle wirklich verbindliche Ausstiegsszenarien festlegen. Sonst werden wir in paar Jahren in einer Volkswirtschaft à la 1950er- und 1960er-Jahre aufwachen.“
In Kriegszeiten braucht es zentrale Lenkung
Der Wirtschaftsexperte Robert Boyer sieht in Le Monde nur einen sinnvollen Weg aus der Krise:
„Es ist Zeit, dass der Staat die ökonomischen Kreisläufe koordiniert, um der gesundheitlichen Notlage mit Effizienz und Schnelligkeit zu begegnen. Man muss die Metapher des 'Kriegs gegen das Virus' ernst nehmen, und daran denken, dass der nationale Haushalt, die makro-ökonomischen Modelle und die staatlichen Wirtschaftspläne, die die Modernisierung des Staates erlaubt haben, aus Kriegsanstrengungen und später aus dem Wiederaufbau hervorgegangen sind - das Kollektivinteresse war wichtiger als der Individualismus, mit Beschlagnahmungen und der Kontrolle von Krediten und Preisen. Es wäre naiv zu denken, dass der Markt den Weg aus der Krise kennen könnte.“
Gnadenstoß für ökonomische Zombies
Sega prognostiziert, dass die Corona-Krise letztendlich eine kathartische Wirkung haben wird:
„Für eine Vielzahl von Prozessen, die seit Jahren die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Zum Beispiel die Zombie-Firmen: Hochverschuldete, ineffiziente Unternehmen, die nur wegen der niedrigen Zinsen der Zentralbanken existieren. Oder die hochverschuldeten Staaten, die sich in der Krise gezwungen sehen, noch mehr Schulden aufzunehmen und noch tiefer im Schuldensumpf versinken. … Bald wird jeder Schuldenstaat den letzten Euro aufnehmen, den er noch bedienen kann, und der nächste Euro wird bereits die Pleite sein. Vielleicht ist das sogar schon passiert, es hat bloß noch niemand bemerkt.“
Staatliche Haushalte aufstocken!
Europa setzt wieder die falschen Signale, meint der griechische Ex-Finanzminister und Vorsitzende der linken Partei MeRA25 Yanis Varoufakis in NV:
„Das angekündigte Finanzhilfepaket für den Privatsektor durch die deutsche Regierung ist laut der internationalen Presse eine Bazooka-Waffe von 550 Milliarden Euro, aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es nicht mehr als eine Spielzeug-Wasserpistole ist. ... Das deutsche Paket, das Steuerzahlungen aufschiebt und große Kreditlinien beinhaltet, zeigt, dass man die Natur der aktuellen Krise nicht begriffen hat. Genau so ein Unverständnis hat die Euro-Krise vor zehn Jahren drastisch verschärft. Heute wie damals stehen Unternehmen und Haushalte vor dem Problem der Insolvenz - und nicht vor dem mangelnder Liquidität. Die Regierungen müssten alle Kräfte für eine außerordentliche Aufstockung der Haushalte aufwenden.“
Den Unternehmen nicht das Steuer überlassen
Wirtschaftsexpertin Mariana Mazzuccato fordert in La Repubblica ein Umdenken:
„Seit den 1980er Jahren haben wir dem Staat gesagt, dass er sich auf den Rücksitz setzen und das Steuer in den Händen der Unternehmen lassen müsse, damit diese Wohlstand schaffen. ... Mit dem Ergebnis, dass die Regierungen ungenügend ausgerüstet sind, um mit Krisen wie Covid-19 oder dem Klima-Notstand umzugehen. Die Dominanz der Privatwirtschaft im öffentlichen Leben hat zudem zu einem Verlust des Vertrauens in das, was der Staat aus eigener Kraft erreichen kann, geführt. ... Wir haben jetzt die Gelegenheit, die Krise zu nutzen, um neue Ansätze im Kapitalismus zu finden. Anstatt Marktversagen einfach zu korrigieren, wenn es auftritt, sollten die Staaten sich aktiv an der Gestaltung und Schaffung von Märkten beteiligen, die ein nachhaltiges und integratives Wachstum erzeugen können.“
Jetzt bitte kein Protektionismus
Mit mehr Regulierung besiegt man das Virus wohl kaum, mahnt Corriere del Ticino:
„Wenn die ganze Sache vorbei ist, wird es eine Reihe von Schäden geben, auch wirtschaftlicher Art. ... Doch wird es gleichzeitig noch viele der Elemente geben, die zuvor zu einem weltweiten Wachstum von über drei Prozent geführt haben. Es ist daher sowohl prinzipiell als auch faktisch falsch, nun auf der durch das Virus ausgelösten negativen Welle zu reiten, um protektionistische Schließungen zu fordern und die Entwicklung des Welthandels anzuprangern, der viele Vorteile gebracht hat. … Die aktuellen Coronavirus-Geschehnisse müssen uns zum Nachdenken bringen und zur Weiterentwicklung von Präventionsmaßnahmen und Strukturen im medizinischen und gesundheitlichen Bereich führen. Es wäre ein sagenhaftes Eigentor, die wirtschaftlichen Barrieren zu erhöhen.“
Mit einer Weltwährung zum Neustart
Irish Times hält es für möglich, dass ein komplett neues Finanzsystem nötig wird, damit sich die Welt von den Folgen der Pandemie erholen kann:
„Wenn wir davon ausgehen, dass der Ernst der Lage Politiker dazu bewegt, Kompromisse einzugehen, könnten wir die Schaffung einer brandneuen globalen Reservewährung erleben. Diese neue virtuelle Währung (die z. B. 'Globo' oder 'Mundo' heißen könnte), die auf einem Währungskorb aus Yuan, Euro und Dollar basieren könnte, würde weltweit Schulden und Vermögenswerte beziffern. Angebot und Nachfrage könnte hierdurch wieder angekurbelt werden und vielleicht könnte das Bargeld in dieser neuen Währung sogar von einem neu organisierten Internationalen Währungsfond (IWF) herausgegeben werden. Einem IWF, der nicht mehr allein von den alten westlichen Ländern kontrolliert wird.“
Her mit den Eurobonds!
Anders als in der Schuldenkrise vor einigen Jahren sind europäische Anleihen jetzt das Mittel der Wahl, argumentiert der Volkswirtschaftsprofessor Paul Pichler in Der Standard:
„Jedes einzelne Land profitiert enorm von den teuren gesundheitspolitischen Maßnahmen seiner Nachbarn. ... Es wäre gerechtfertigt, die Kosten der Corona-Krise auf gesamteuropäischer Ebene zu vergesellschaften. Die Finanzierung dieser enormen Ausgaben könnte durch die Emission gesamteuropäischer Anleihen erfolgen. Eurobonds wurden schon im Verlauf der europäischen Schuldenkrise diskutiert, aufgrund der inhärenten Anreizprobleme für Einzelstaaten jedoch stets abgelehnt. Dieser Grund ist heute nicht relevant: Das Coronavirus ist schließlich nicht durch leichtsinniges Verhalten von Politikern entstanden, und ein solches Verhalten wird auch in Zukunft nicht zur Entstehung von Viren führen.“
Jetzt muss die EZB Geld verteilen
Dreizehn Wirtschaftswissenschaftler fordern in einem von Observador gedruckten Manifest schnelle und drastische Maßnahmen von der EU:
„Um eine Notfinanzierung zu ermöglichen, braucht es jetzt außergewöhnliche Mittel, auch wenn dafür Korrekturen an der EU-Gesetzgebung erforderlich sind. ... In solchen Ausnahmesituationen muss die EZB zur Finanzierung eines derartigen Programms ermächtigt werden. Zum Beispiel in Form von langfristigen und natürlich rückzahlungspflichtigen Darlehen (über 50 Jahre) zu sehr niedrigen Zinssätzen (oder gar zinsfrei). ... Auch drastische Maßnahmen wie das Drucken von Geld, um es bestimmten Bevölkerungsgruppen und Unternehmen zur Verfügung stellen zu können, und die Schaffung von Eurobonds oder europäischen Anleihen müssen von den politischen Behörden und der EZB ernsthaft in Betracht gezogen werden.“
Alleingänge werden Märkte nicht beruhigen
Dass jedes Land für sich allein gegen die Corona-Krise kämpft, kritisiert Dagens Nyheter:
„Die Politiker müssen anerkennen, dass wir nicht mit einem 'ausländischen Virus' konfrontiert sind, wie der US-Präsident es nannte, sondern vor einem gemeinsamen Kampf stehen. Gemeinsame Anstrengungen sind erforderlich, um die Produktion von medizinischen Geräten und Materialien zu steigern, einen internationalen Markt dafür aufrecht zu erhalten, und einen Impfstoff gegen das Virus zu entwickeln. Wenn die Staats- und Regierungschefs der Welt zeigen, dass sie zusammenarbeiten, um die Corona-Krise zu bewältigen, werden sich die Märkte beruhigen. Nur dann haben sie Grund dazu.“
Jede Kundengeste zählt
Viele Firmen werden die Corona-Krise nicht überstehen, ist sich der Nordschleswiger sicher, sieht aber auch Lichtblicke:
„Geschäftsleute sind in ihrer Not kreativ und bieten Alternativen an (Takeaway statt Restaurantbesuch, Onlineservice statt Einkaufsbummel). Auf der anderen Seite stehen viele Kunden hinter den Unternehmen: Als ein örtliches Fitnesscenter die Mitglieder finanziell kompensieren will, antworten viele, dass sie weiter zahlen wollen - auch wenn sie nichts für ihr Geld bekommen. Sie möchten irgendwann wieder in ein geöffnetes Fitnesscenter zurückkehren und nicht vor geschlossenen Türen stehen. Nicht allen kann geholfen werden - weder mit netten Kunden noch mit einem öffentlichen Milliarden-Paket von der Politik. Aber man kann helfen, wo man kann. Wie bei der Bekämpfung des Virus, zählt jeder kleine Schritt, jeder kleine Einsatz, jede noch so kleine Maßnahme und jede kleine Geste.“