Braucht es einen starken Staat?
Beschränkungen, Lockerungen, Hilfspakete: In der Krise bestimmen Regierungen das öffentliche und private Leben bis ins Detail. Kommentatoren diskutieren, ob sich nun zeigt, dass ein starker Staat im Ernstfall von Vorteil ist - oder ob Bürger und Unternehmen nicht viel mehr kritische Fragen stellen sollten.
Schwaches Gemeinwesen ist gefährlich
Die Regierungen müssen die bürgerlichen Rechte vorübergehend beschränken, da infolge des massiven Abbaus bei Krankenhäusern und anderen öffentlichen Strukturen keine anderen Mittel mehr vorhanden sind, erläutert Staatsrechtler Jean-Charles Froment in Le Monde:
„Die Einschränkung der Freiheiten ist nicht mehr Ausdruck eines autoritären Staats, der alles zu kontrollieren versucht. Nein. Es ist im Gegenteil der eines geschwächten Staats, der ganz einfach versucht, die tödlichen Schäden seiner Fragilität zu begrenzen. Wir sollten uns in der Debatte über die Freiheiten nicht irren. Es geht heute nicht mehr darum, sich gegen das Risiko einer Diktatur aufzulehnen, sondern gegen die Gefahr eines Staats, der seit Jahren derart erodiert ist, dass er keine Handlungsalternativen mehr hat. Dieser verwundbare Staat wird somit zum Hauptrisiko für unsere Freiheiten.“
Es bräuchte vor allem kritische Bürger
Der Tages-Anzeiger beobachtet eine allzu willfährige Akzeptanz obrigkeitlicher Einschränkungen:
„Alle müssen dazu beitragen, dass die Pandemie eingedämmt werden kann, und alle müssen dafür Eingriffe in die Grundrechte hinnehmen, solange sie gerechtfertigt und verhältnismässig sind. ... Es ist jedoch bedenklich, dass diese starken Einschränkungen ausgerechnet in der demokratischen Schweiz kaum diskutiert werden - und wie bereitwillig eine Mehrheit noch weiter gehende Einschränkungen zulassen will. Aber in Zeiten voller Unsicherheit gelten offenbar andere Regeln. Die Bevölkerung zeigt vollstes Vertrauen in ihre Regierung, und in vielen Ländern steigen deren Beliebtheitswerte steil an. Selbst in der Schweiz ist man offensichtlich froh, wenn eine starke Führung das Zepter in die Hand nimmt – und man sich selber in sein Homeoffice zurückziehen kann.“
Das neoliberale Konzept ist gescheitert
Die Corona-Krise bestätigt die Notwendigkeit eines starken Staats, findet die Vorsitzende der Österreichischen Sozialdemokraten, Pamela Rendi-Wagner, in einem Gastkommentar für Die Presse:
„Der Ruf nach einem helfenden und schützenden Staat wird im Zuge der Bewältigung der Krise lauter - auch von jenen Parteien, die diesen in der Vergangenheit immer wieder diskreditiert haben. ... Die Coronakrise zeigt, dass das neoliberale Konzept gescheitert ist. In Österreich konnten ein starker Staat und ein gutes öffentliches Gesundheitssystem erhalten werden, dank sozialdemokratisch geführter Regierungen. ... Der Staat gleicht jene Nachteile aus, die in einer vom freien Markt geprägten Gesellschaft entstehen. Ein handlungsfähiger, widerstandsfähiger Staat ist daher immer von zentraler Bedeutung, nicht nur in Krisenzeiten.“