Neues Kabinett: Hat Macron die Richtigen gewählt?
Die Regierungsumbildung in Frankreich bietet weiterhin Diskussionsstoff. Wegen des schlechten Abschneidens seiner Partei LREM bei der Kommunalwahl hatte Präsident Macron wichtige Ministerposten neu besetzt. Neuer Premier ist Jean Castex, der zuletzt die Corona-Auflagen koordiniert hat. Kommentatoren vermuten, dass Macron sich schon für den Wahlkampf positioniert - sind aber uneins, ob die Strategie aufgehen wird.
Gut gerüstet für den Wahlkampf
Macron könnte keinen besseren Sidekick als Castex finden, lobt L'Obs:
„Er wird das Gegenteil des Präsidenten sein, mit beiden Füßen fest auf dem Boden, verwurzelt im ländlichen Raum. Er wird sein Mountainbike sein, geländegängig in ganz Frankreich. Er hält das Schicksal von Emmanuel Macron in seinen Händen, auch wenn sie auf den ersten Blick grob wirken. Wir befinden uns bereits in der Vorbereitungsphase für die Wahl 2022. ... Die Zeit der langfristigen Vorhaben ist vorbei, es geht jetzt um schnelle Massnahmen für weniger Arbeitslosigkeit und mehr Konsum, was Wahlkampf-Geschenken gleich kommt. Nach der Peitsche packt Emmanuel Macron nun das Zuckerbrot aus. Wenn die einfachen Franzosen davon profitieren können, warum nicht? ... Wie bescheidene Leute sagen: 'Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.'“
Castex ist eine Marionette
Der neue Premier, einst enger Mitarbeiter von Nicolas Sarkozy, ist in seinen Entscheidungen nicht frei, kritisiert Politis:
„Letztendlich ist es egal, dass Edouard Philippe geht und Jean Castex auftaucht. Emmanuel Macron legt fest, welche Politik gemacht wird. ... Für Castex ist fast alles schon vorgegeben. Seine Denk- und Handlungsautonomie bei der Verwaltung von Frankreichs Angelegenheiten ist sehr gering. Er darf womöglich noch ein paar Stilmittel und kommunikationsstrategische Phrasen in seiner Antrittsrede ausarbeiten. ... Die Aufgaben, die dem neuen Premier anvertraut wurden, gleichen der Realisierung einer groß angelegten Zerstörung, womit er mit Emmanuel Macron fortführt, was er in seiner Zeit unter Nicolas Sarkozy begonnen hat.“
Anbiederung an die Rechten
Le Monde überrascht im neuen Kabinett vor allem die Ernennung des konservativen Anwalts Eric Dupond-Moretti zum Justizminister:
„Diese Ernennung soll offensichtlich schockieren, aber zu welchem Zweck? Um die Tatsache zu übertünchen, dass der Rest der Ernennungen nicht unbedingt aufregend ist? Oder will man mit der Eingliederung eines 'Großmauls' in die Regierung dem populistischen Zeitgeist Rechenschaft tragen? Oder offene Rechnungen mit den Richtern begleichen? Denn hierzu hat sich der Anwalt in letzter Zeit sehr deutlich geäußert. ... Ganz offensichtlich biedert man sich hier der rechten Wählerschaft an, die - genau wie der neuernannte Minister - gerne die 'Republik der Richter' anprangert. Der zu zahlende Preis ist die Destabilisierung des Justizsystems. Er erscheint zu hoch.“
Das kann sehr schnell schiefgehen
De Volkskrant sieht in der neuen Regierung vornehmlich Veteranen und wenig prominente Funktionäre und findet das riskant:
„Der neue Premier Jean Castex war ein hoher Beamter unter Präsident Sarkozy. Die Ernennung dieses ziemlich farblosen Funktionärs zeigt, dass Macron im Hinblick auf 2022 so viel wie möglich selbst im Rampenlicht stehen will. Das ist eine riskante Entscheidung. Viele Franzosen finden ihn sowieso schon autoritär und elitär. Wenn etwas misslingt, dann hat er keinen populären Premier wie Edouard Philippe mehr, um die Kritik aufzufangen. Außerdem kann viel schieflaufen: In der Periode bis zur Präsidentschaftswahl wird Emmanuel Macron vor allem mit der Bekämpfung einer Wirtschaftskrise als Folge der Corona-Pandemie beschäftigt sein.“
Mindestens drei Verbündete
Für den Präsidenten zeichnen sich für 2022 gute Chancen ab, meint hingegen Le Soir:
„Emmanuel Macron, so heißt es, habe keine Verbündeten. Doch, die hat er. Mindestens drei: Jean-Luc Mélenchon, der dafür sorgen wird, dass es keinen gemeinsamen Kandidaten von links gibt; die radikalen Öko-Aktivisten, die in die gleiche Richtung agieren werden; und die Anarchisten. In einer großen Pariser Vorstadt, Aubervilliers, seit Jahrhunderten eine kommunistische Hochburg, hat die extreme Linke nicht gezögert, die Stadt den Rechten zu schenken. ... Drei Verbündete? Vier sogar! Die jüngsten Wahlen, wie auch die Umfragen zeigen: Die klassische Rechte hat keine Chance, den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zu erreichen.“
Rezession könnte alles Kalkül zunichte machen
Der drohende wirtschaftliche Abschwung wegen Covid-19 könnte Emmanuel Macron die Wiederwahl kosten, meint The Guardian:
„Da die Präsidentschaftswahl in weniger als zwei Jahren stattfindet, ist Macrons Regierungsumbildung diese Woche ein Versuch, endlich wieder in die Offensive zu gehen. ... Umfragen zufolge würde Macron die Chefin des Rassemblement National, Marine Le Pen, in einer Stichwahl erneut klar besiegen, wenn eine solche morgen stattfinden würde. Doch für die populistische Rechte war eine Rezession, wie sie nun bevorsteht, wahrscheinlich immer nützlicher als eine akute Gesundheitskrise. Nun, da sich die Wirtschaft in unabsehbarer Weise entwickelt, findet sich Macron trotz all seiner Bemühungen als Getriebener von Ereignissen wieder, die er nicht kontrollieren kann.“
Ein Manöver für 2022
Emmanuel Macron versucht, die Weichen für seine Wiederwahl in zwei Jahren zu stellen, erörtert Brüssel-Korrespondent Andrea Bonanni in La Repubblica:
„Macron weiß genau, dass seine einzige Hoffnung auf eine Wiederwahl die Stichwahl gegen die populistische und antieuropäische Rechte von Marine Le Pen ist. Deshalb versucht er, während er Sozialisten und Grüne um linke Stimmen kämpfen lässt, den politischen Raum der gemäßigten Mitte-Rechts-Bewegung zu besetzen und eine Wiedergeburt der Gaullisten zu verhindern. Sollte dies gelingen und sollten Sozialdemokraten und Grüne es nicht schaffen, sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu einigen, hätte der amtierende Präsident gute Chancen, als einziger demokratischer und pro-europäischer Konkurrent gegen Le Pens Anti-EU-Rechte in die Stichwahl zu kommen.“
Mangelndes Feingefühl
Neue Minister reichen nicht, mahnt Les Echos:
„Nach drei Jahren, die von massiven sozialen Bewegungen wie der beispiellosen Mobilisierung der Hüter des Allgemeinguts (Polizisten, Feuerwehrleute und Krankenpfleger) geprägt waren, sollte nun auch der Regierungsstil geändert werden. Angesichts der Spaltung der französischen Gesellschaft zu Beginn der sich nun ankündigenden langen Krise - denn das gemeinsame Covid-19-Drama hat sie keineswegs zusammengeschweißt - ist dies umso dringender nötig. Angesichts der extremen Anfälligkeit des sozialen Geflechts ist Fingerspitzengefühl nötig. … Während man im Gesundheits- und Bildungssektor lediglich eine Wiedergutmachung fordert, beharrt der Staatschef auf seiner Vorstellung einer Umgestaltung. Die Regierungsmethode, die man Klugheit nennt, scheint ganz an der Spitze, im Élysée-Palast, manchmal zu fehlen.“
Die grüne Wende bleibt aus
Der versprochene Neuanfang ist Emmanuel Macron nicht wirklich geglückt, meint die Stuttgarter Zeitung:
„Schon die Präsentation des neuen Premierminister Jean Castex am Freitag zeugte von Mutlosigkeit und taktischem Kalkül. ... Besonders bitter für Emmanuel Macron ist es, dass sich nicht ein einziger prominenter Vertreter der Grünen bereiterklärt hat, ein Ministeramt zu übernehmen. Aus der Riege der Öko-Partei erntet der Präsident vor allem Spott für sein neues Programm, in dem der Umweltschutz ein wesentlicher Pfeiler sein soll. Ein Ziel von Macron war es, den aktuellen großen politischen Erfolg der Grünen für sich selbst nutzen. Das hat er zumindest bei der Besetzung der Ministerposten nicht geschafft.“
Präsident rückt sich in den Mittelpunkt
Mit der Wahl von Castex stärkt Macron vor allem sich selbst, bemerkt Laurent Joffrin, Chefredakteur von Libération:
„Das Kommuniqué des Élysée-Palasts enthält einen Fehler. Darin wird angekündigt, dass der Präsident Jean Castex zum Premierminister ernannt hat. Man muss jedoch lesen: Der Präsident hat Emmanuel Macron zum Premierminister ernannt. ... Mit der Nominierung eines der Öffentlichkeit unbekannten Mannes ohne Parteirückhalt, der für sein Organisationstalent und seine Umgänglichkeit gelobt wird, der nationalen politischen Bühne aber fremd und somit ohne Autonomie ist, hat der Präsident einen Stabschef oder - wie Nicolas Sarkozy sagte - einen 'Mitarbeiter' ernannt. Emmanuel Macron macht damit deutlich, dass er nunmehr alles auf eine Karte setzt, und ganz allein oder fast die Entscheidungen verkörpert, die in den kommenden zwei Jahren getroffen werden.“
Gegen den Willen der Wählerschaft
Gazeta Wyborcza sieht die Entscheidung für Castex kritisch:
„Das politische Profil des neuen französischen Regierungschefs wirft größte Zweifel auf. Kurz nach der zweiten Runde der Kommunalwahlen in der vergangenen Woche, als Macrons Partei LREM den Kampf gegen die Grünen und Sozialisten in den wichtigsten Städten verlor, hätte man glauben können, der französische Präsident müsse sich nun an linke Wählergruppen wenden, die sich für Klimaschutz, ökologische Stadtentwicklung und den Kampf für saubere Luft interessieren. ... Aber anstatt sich den zum Ausdruck gebrachten sozialen Erwartungen zuzuwenden, geht Macron - mit Blick auf den politischen Hintergrund des neuen Regierungschefs - in die entgegengesetzte Richtung. In Frankreich gibt es bereits Stimmen der Enttäuschung.“
Die Quittung könnte noch kommen
Der Frankreich-Korrespondent des Handelsblatts, Thomas Hanke, kann keinen überzeugenden Grund entdecken, warum Philippe gehen musste:
„Es war wohl eine Mischung aus Eifersucht auf die während der Coronakrise gewachsene Beliebtheit Philippes, der ihn zunehmend in den Schatten stellte, und aus inhaltlichen Differenzen, die Macron zum Rauswurf veranlasst haben. ... Nach der Entlassung könnte Philippe versucht sein, 2022 als Kandidat der gemäßigten Rechten ins Rennen zu gehen. Er würde Macron eine große Zahl an Stimmen abnehmen. Der könnte dann zwischen Ökologen und der Rechten aufgerieben werden - die Quittung für einen sinnlosen Rauswurf.“
Eine gut begründete Entscheidung
La Libre Belgique hingegen weiß, warum Philippe den Hut nehmen musste:
„Emmanuel Macron, der mit dem fortdauernden Unbehagen der französischen Gesellschaft und der Totalschlappe der Kandidaten seines Lagers konfrontiert ist, wollte seiner Präsidentschaft neuen Schwung verleihen. ... Man fragte sich, ob er es wagen würde, sich von Edouard Philippe zu trennen, der beliebter ist als er selbst. ... Analysiert man die Divergenzen, zeigt sich allerdings, dass Edouard Philippe derjenige war, der Frankreich mit drei Maßnahmen in Brand setzte: die Spritsteuer, wegen der die 'Gelbwesten'-Bewegung entstand, die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen auf 80 km/h, die zu einer Revolte der Lokalpolitiker führte, sowie die Anhebung des offiziellen Renteneintrittsalters auf 64, die die Wut der künftigen Rentner auslöste.“
Die EU braucht ein starkes Frankreich
Jetzt muss Macron endlich liefern, fordert Politiken:
„Frankreich braucht Reformen. Das Rentensystem, die starke Zentralisierung und die Ungleichheit in der Wirtschaft sowie der unflexible Arbeitsmarkt müssen modernisiert werden und Frankreich wie Europa müssen hoffen, dass Macron seine Kampfform zurückgewinnt. ... Die EU braucht ein starkes Frankreich, das zusammen mit Deutschland die EU in eine grüne Richtung voranbringen kann. Es gab einen Grund, warum Frankreich vor drei Jahren den Sprung ins Ungewisse wagte und Macron gewählt hat. Das alte politische System war verrostet und musste erneuert werden. Macron hat jetzt zwei Jahre Zeit zu beweisen, dass er der richtige Mann und des Vertrauens würdig ist. “