Proteste und Streiks: Druck auf Lukaschenko wächst
Seit der Wahl in Belarus vor einer Woche haben sich immer mehr Menschen den oppositionellen Protesten angeschlossen. Am Samstag waren es allein in Minsk rund 100.000. Zudem streiken die Mitarbeiter in vielen wichtigen Staatsbetrieben und mehrere Journalisten des Staatsfernsehens haben öffentlich die Opposition unterstützt. Reicht das aus, um Staatschef Lukaschenko zu vertreiben?
Arbeiter könnten das System kippen
Wedomosti konstatiert, dass sich auch Lukaschenkos bisherige Stammwählerschaft abwendet:
„Die Staatsmacht versucht, die Proteste einer kleinen sozialen Gruppe zuzuschreiben: Hipster, die unter Propagandaeinfluss geraten sind. Deshalb ist es den Protestierenden so wichtig, soziale Vielschichtigkeit zu zeigen. Die Streiks in den Fabriken haben der Opposition einen unschätzbaren Dienst erwiesen, haben sie doch Lukaschenkos Leuten das Schlüsselargument genommen - dass die Werktätigen dem System treu sind. Doch darauf braucht man nicht mehr zu hoffen. Die Illusion, das 'einfache Volk' werde schon nicht aufbegehren, hat schon Nikolaus II. und dann das Sowjetsystem zu Fall gebracht.“
Es braucht eine Solidarność
Rzeczpospolita ermutigt die Opposition, sich in festen Strukturen zu organisieren:
„Wut und Proteste reichen nicht aus. Junge Belarusen müssen ihre Lektion aus der Geschichte lernen. Der polnische Aufstand in den 1980er Jahren wurde durch die Gewerkschaft Solidarność institutionalisiert, und die starke Struktur des Bürgerkomitees mit Lech Wałęsa, klaren Führern und einer echten Unterstützung des Westens ermöglichte es, Premier Wojciech Jaruzelski 1989 harte Forderungen zu stellen. Die Opposition in Belarus muss sich daher institutionalisieren. Nur dann wird die Nation dem Diktator nicht nur in die Augen schauen, sondern auch Angst in ihnen sehen.“
Der Thron wankt
Aus Russland wird wohl niemand dem belarusischen Präsidenten zu Hilfe eilen, glaubt die Berliner Zeitung:
„Lukaschenko gilt auch in Russland als unsicherer Partner. Seine Machtspiele mit der EU werden ihm negativ ausgelegt, außerdem soll er Gasrechnungen nicht bezahlt haben. Im Interesse Russlands ist lediglich eine belarussische Pufferzone, die unabhängig und russlandfreundlich bleibt. ... Die Demonstranten protestieren für Freiheit und Unabhängigkeit, zudem pflegen führende Oppositionspolitiker Kontakte zur russischen Wirtschaft. Lukaschenkos Hilferuf ist also strategisch zu werten: Er hat Angst um seine Macht. Jetzt behauptet er, die Nato würde sich für einen Angriff vorbereiten. Außerdem organisiert er Gegendemonstrationen. All das zeigt: Sein Thron wankt.“
Kein Schwein interessiert sich für Belarus
Die Opposition hat sich für ihr nationales Erwachen nicht die richtige Zeit ausgesucht, bedauert Latvijas avīze:
„In gewisser Weise haben die Belarusen kein Glück, denn die wichtigsten Ereignisse in ihrem Land finden zu einem Zeitpunkt statt, an dem der entscheidende Kampf um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten Fahrt aufnimmt. Daher besteht heutzutage in der Welt viel mehr Interesse an der von Joe Biden am Mittwoch für das Amt der Vizepräsidentin vorgestellten Kandidatin als an den Unruhen in einem fernen postsowjetischen Land, das vom sowjetischen Erbe immer noch nicht losgekommen ist und bisher nicht einmal versucht hat, daran etwas zu ändern. Wie die benachbarte Ukraine, die schon eine ganze Reihe von Maidans organisiert hat.“