Was geschieht mit Belarus?
Die Entwicklung nach der Präsidentschaftswahl in Belarus bleibt weiterhin völlig offen: Die Proteste halten an, doch Präsident Lukaschenka macht keine Anstalten, der Opposition Konzessionen anzubieten oder gar abzutreten. Europas Medien spekulieren, wie es in dem Land weitergehen wird.
Kolchos-Idylle ist passé
Politikjournalist Kirill Rogow hält auf Echo Moskwy die Lage des Langzeit-Machthabers für aussichtslos:
„Auch wenn die sonntäglichen Umzüge die Opposition einem erfolgreichen Finale offenbar nicht näherbringen, minimieren sie doch die Perspektiven Lukaschenkas, irgendwann wieder zum lukaschenkschen Belarus zurückzukehren. Wenn jeden Sonntag ein Drittel des Landes durch die Straßen zieht und 'Ratte verrecke!' skandiert, ist eine Rückkehr zu der von Lukaschenka 20 Jahre lang erfolgreich aufrechterhaltenen paternalistischen Kolchos-Idylle nur schwer vorstellbar. Zwar scheint mir, dass es für das 'System Lukaschenka' in Belarus weiterhin eine große Unterstützergemeinde gibt. Aber Lukaschenka selbst scheint nicht mehr in der Lage zu sein, diese zu mobilisieren.“
Volk wird Anschluss an Russland nicht mitmachen
Belarus wird sich nicht von Russland vereinnahmen lassen, ist sich der russische Politologe Andrei Piontkowski in NV sicher:
„[Putin und Lukaschenka] machen die Rechnung ohne das belarusische Volk, das sich seiner selbst bewusst geworden ist, das sich zum ersten Mal so klar und wach verhalten hat. Und dieses Volk wird eine Annexion nicht mitmachen. Dies wäre der sicherste Weg einer Zerstörung der relativ guten Beziehungen zwischen Russland und Belarus. Schließlich gibt es in Belarus keinen historischen Antagonismus gegenüber Russland, wie in der Ukraine. Die russische Macht hat in ihrer Geschichte weniger Verbrechen gegenüber dem belarusischen Volk als gegenüber dem ukrainischen begangen. Und die Haltung der Opposition gegenüber Moskau ist ziemlich positiv - doch dies gilt nur, solange Moskau seine Operation 'Anschluss' nicht offen ausführt.“
Corona als Katalysator
Den Einfluss der Corona-Krise auf autoritäre Regime analysiert Politiologe Dominique Moïsi in Les Echos:
„Der Kontrast zwischen der Welt der Machthabenden und der der Gesellschaft ist in Belarus einfach zu groß geworden. Und die Covid-19-Krise hat möglicherweise dazu beigetragen, diesen Trennungsprozess voranzutreiben. ... [Das Virus] schwächt Führer, deren Inkompetenz eklatant ist, und beschleunigt den Vertrauensverlust des Volkes in Regime, die es unterdrücken, ohne es zu schützen. Lukaschenkas 'Trump-mäßige-Erklärungen' über 'das Spielen von Eishockey als beste Form des Schutzes vor dem Virus' und, mehr noch, die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage im Zusammenhang mit der Pandemie haben den Wunsch einer Mehrheit der Belarusen verstärkt, einer alternden und zunehmend karikierten Macht durch die Wahlurne ein Ende zu bereiten.“
Verzögerungstaktik könnte aufgehen
Lukaschenka hat am Wochenende durch Russlands Außenminister Sergej Lawrow prominente Unterstützung erhalten, hebt Hospodářské noviny hervor:
„Lawrow befürwortete Lukaschenkas Vorschlag, die Präsidentschaftswahlen nach einer Verfassungsänderung zu wiederholen. ... Lukaschenka wird versuchen, auf Zeit zu spielen, und hoffen, dass die Demonstranten mit der Zeit müde werden, die Begeisterung nachlässt und sich alles allmählich wieder normalisiert. Sofern sich die Polizeirepression der vergangenen Woche nicht wiederholt, besteht eine gute Chance, dass die Proteste mit der Zeit an Intensität verlieren. Die belarusische Opposition befindet sich entweder im Ausland oder im Gefängnis, und das neue Oppositionsgremium, der Koordinierungsrat, verfügt nur über Verhandlungspotenzial, solange sich Menschen auf der Straße und Angestellte im Streik befinden.“
Das Wunschdenken spielt einen bösen Streich
Wedomosti räsoniert über die Gründe, warum Kommentatoren reihenweise falsch lagen, als sie vor einer Woche den schnellen Kollaps des Regimes prophezeiten:
„Lukaschenka klammert sich fanatisch an die Macht. Zum Vergleich: Aus einem Nachbarland ist 2014 ein viel hasenfüßigerer, einfach nur korrupter Nichtfanatiker erst nach drei Monaten mit täglichen Massendemos und echten Straßenkämpfen geflohen. ... Deshalb war es eine Illusion zu glauben, dass Lukaschenka innerhalb einer Woche abzieht, weil er Luftballons nicht erträgt. ... Vielen ist Lukaschenka schon ästhetisch zuwider. Diese Ablehnung hat den Beobachtern einen bösen Streich gespielt. ... Kluge und wissende Leute haben unbewusst ihre persönliche Antipathie auf das Beharrungsvermögen des Regimes projiziert. Als dieses nur einen Riss zeigte, sahen sie schon den Zusammenbruch.“
Letztes Mittel: grobe Gewalt
Das belarusische Staatsfernsehen hat am Wochenende Aufnahmen gezeigt, in denen Lukaschenka mit kugelsicherer Weste und Kalaschnikow bewaffnet zu sehen war. Dies zeigt, wie schwach der Präsident mittlerweile ist, interpretiert Webcafé:
„Das Kalaschnikow-Sturmgewehr in den Händen des seit 1994 regierenden Lukaschenka sollte ein Zeichen der Stärke und Entschlossenheit sein vor dem Hintergrund der anhaltenden Protesten gegen ihn. ... Tatsächlich aber war es ein Zeichen von Schwäche. Lukaschenka greift bereits buchstäblich und im übertragenen Sinne nach seiner letzten Waffe - der groben Gewalt. ... Der Präsident von Belarus hat den Status jener Diktatoren erreicht, die ihr Volk nicht mehr nur mit Worten kontrollieren können. ... Die meisten von ihnen haben etwas gemeinsam: Sie stürzen sich selbst.“
Bloß weg mit dem Diktator
Für die Jugend des Landes hat Lukaschenka endgültig ausgedient, beschreibt Małgorzata Kulbaczewska-Figat, Chefredakteurin des polnischen Onlineportals strajk.eu, die Situation in Belarus auf baricada.ro:
„Lukaschenka hat aufgehört, ein Anführer zu sein, der sich um die Bevölkerung kümmert. Er ist ein gewöhnlicher Diktator geworden. ... Seine Worte beeindrucken die Leute und vor allem die jungen nicht mehr, deren gesamtes Leben unter seiner Führung stand. ... Sie sind bereit, wen auch immer zu unterstützen, auch wenn diese Person noch nicht einmal ein Programm oder Versprechen hat - bloß Lukaschenka soll es nicht mehr sein. Sie denken nicht geopolitisch und sie glauben auch nicht, dass das Land im Falle eines Staatsstreichs das Schicksal der Ukraine und ihrer verarmten Gesellschaft ereilt.“
Das traurige Ende einer Revolution
Keine großen Hoffnungen auf eine Wende in Belarus hat Diena:
„Die großen Proteste waren höchstwahrscheinlich der Höhepunkt der Revolution, dem keine logischen Fortsetzungen folgten, wie Massenstreiks in staatlichen Fabriken. Ebenso haben die Demonstranten es nicht geschafft, die Machtpyramide von Lukaschenka zu erschüttern - es gibt keine hochrangigen Überläufer. Die gegenüber dem jetzigen Präsidenten Loyalen haben die Machtstrukturen erhalten und immer mehr Anhänger von Lukaschenka gehen auf die Straßen. Es stellte sich überraschend heraus, dass es im Land viele solcher Menschen gibt. ... All das bedeutet noch nicht, dass Lukaschenka die Macht behält, aber es gibt ihm die Möglichkeit, nach seinen eigenen Bedingungen abzutreten und seinen Platz an einen Nachfolger aus den Reihen der jetzigen Elite zu übergeben.“
Wie Belarus den falschen Weg einschlug
Die sanfte Transformation der Wirtschaft nach 1989 schadet den Belarusen bis heute, meint Gazeta Wyborcza:
„Nach der Machtübernahme von Lukaschenka 1994 wurden Reformbemühungen eingestellt. Heute gehören 80 Prozent der Industrie dem Staat und die Zahl ausländischer Investitionen ist kaum der Rede wert. ... Die polnischen Arbeiter, die vor 40 Jahren mit den Protesten begannen, die später den Zusammenbruch des kommunistischen Systems auslösten, wussten nicht, dass viele der Unternehmen, für die sie arbeiteten, infolge des Zusammenbruchs verschwinden würden. Sie erlitten große Verluste, aber dank ihnen leben wir in einem Land, das nicht nur demokratisch, sondern auch reicher ist. Durch die Wahl der angeblich milderen Variante der Transformation verloren die Belarusen ihre Chance auf Demokratie und Wohlstand. Heute stehen sie fast am selben Punkt wie vor 30 Jahren.“
Rennen um Spitzenpositionen völlig offen
Wer jetzt die Opposition anführt, muss noch lange nicht künftiger Präsident werden, analysiert Serhij Sydorenko, Redakteur der Ukrajinska Prawda:
„Es wird wohl kaum Swetlana Tichanowskaja sein, die nur zufällig wichtigste Oppositionskandidatin geworden ist und sich auch gar nicht darum bemüht, die Proteste anzuführen. … Hier sollten wir uns der jüngsten ukrainischen Geschichte erinnern. Die wichtigsten 'politischen Führer' der Revolution der Würde waren Jazenjuk, Klitschko und Tyagnibok, ihre 'virtuelle Anführerin' war Julia Timoschenko, aber die Präsidentschaftswahl hat Petro Poroschenko gewonnen. So wird es auch in Belarus sein.“
Auf der Suche nach einem Lech Wałęsa
Auch LSM sieht unter den aktuellen belarusischen Politikern keinen tauglichen Lukaschenko-Nachfolger:
„Swetlana Tichanowskaja hat sich bereit erklärt, die Führung zu übernehmen. Aber wer wird an ihrer Seite stehen? ... Musiker, Schauspieler oder Sportler sind in Belarus bekannt, aber können sie die Gespräche mit den mehr als Jahrzehnte lang geschliffenen Führern des Regimes führen? Eher nicht. Auch ehemalige Politiker und Präsidentschaftskandidaten rufen ihre Existenz und ihre Fähigkeit in Erinnerung, mit Lukaschenko zu sprechen. Aber sind diese Oppositionellen, die sich als Kenner der bestehenden Macht präsentieren, geeignet, die belarusische Volksbewegung hinter sich zu bringen? ... Nein. ... Sie müssen nach einem eigenem Lech Wałęsa suchen. Und den wird es bestimmt bei den nächsten Generalstreiks geben.“
Den Umbruch vorbereiten
Man muss schon jetzt daran denken, wie man Belarus in der Übergangsphase nach der Ära Lukaschenko unterstützen kann, fordert Anders Aslund, Senior Fellow des Atlantic Council, in nv.ua:
„Was auch immer [auf dem EU-Sondergipfel] entschieden wird, der Westen muss dranbleiben. Wenn Lukaschenko fällt, wird Belarus ein IWF-Programm brauchen, sobald eine neue Regierung im Amt ist. Die Weltbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung müssen bei Deregulierung und Privatisierung die nötige Hilfestellung leisten. Auch die EU wird eine Rolle spielen. Sie muss die neue Regierung positiv aufnehmen, das Programm der östlichen Partnerschaft für Belarus aktivieren, belarusische Studenten zur Teilnahme am Erasmus-Austauschprogramm einladen. Es darf nicht unterschätzt werden, wie sehr eine solche Bürgerbeteiligung dazu beiträgt, eine russische Einmischung einzudämmen oder zu neutralisieren. “
Ein erträgliches Leben genügt nicht mehr
Es lag nicht nur an repressiven Maßnahmen, dass Lukaschenko sich 26 Jahre lang halten konnte, blickt news.bg zurück:
„In dem 9,5-Millionen-Einwohner-Land gibt es praktisch keine Arbeitslosigkeit. Das Durchschnitts-Gehalt beträgt zwar nur 350 US-Dollar im Monat, aber die Lebenshaltungskosten sind gering. Die Nebenkosten (Strom, Heizung, Wasser usw.) liegen meist unter 10 Prozent des Gehalts, und Lebensmittel sind relativ billig. An öffentlichen Orten wird auf Ordnung und Sauberkeit geachtet und die Kriminalität hält sich in Grenzen. Anders als in der Sowjetzeit kann man problemlos ins Ausland reisen, solange man keine Steuern und Sozialabgaben schuldig bleibt. … Nun fordern die Belarusen aber Gerechtigkeit und demokratische Grundrechte, doch so wie es aussieht, werden sie diese nicht bekommen.“