Warum wurde Nawalny vergiftet?
Ärzte der Charité haben Hinweise darauf gefunden, dass Alexej Nawalny mit einem Cholinesterase-Hemmer vergiftet wurde. Diese Substanzen finden sich in chemischen Kampfstoffen, sie werden aber auch medizinisch eingesetzt. Der russische Oppositionspolitiker liegt seit Donnerstag im Koma und war am Wochenende von Omsk nach Berlin geflogen worden. Kommentatoren spekulieren über die Motive für eine Vergiftung.
Jetzt wurde er zu gefährlich
Nawalny hatte zu viel politisches Gewicht in Russland gewonnen, meint der Oppositionspolitiker Ilja Jashin in Echo Moskwy:
„Nawalny hat ein enormes Publikum, so groß wie das eines landesweiten TV-Kanals. Die von ihm aufgegriffenen Themen bestimmen die Tagesordnung. Er hat Einfluss auf Wahlergebnisse und bricht Politiker-Karrieren in [der Regierungspartei] 'Einiges Russland'. Er ist in der Lage, zehntausende Anhänger auf die Straßen zu bringen. Kurzum: Nawalny stellt eine kapitale Bedrohung dar, die in der für Putin heiklen Phase der Machtübergabe problematisch werden kann. … Die Leute der heutigen Staatsführung stammen aus der Schule des KGB. Sie haben schrittweise versucht, das Problem Nawalny durch Druck und Diskreditierung zu lösen. Das hat nichts gebracht. Was bleibt dann noch? Richtig: Kein Mensch - kein Problem.“
Die Jagd ist außer Kontrolle geraten
Helsingin Sanomat glaubt, dass die russischen Behörden im Fall Nawalny die Kontrolle verloren haben:
„Mindestens zwei stellvertretende Leiter der Präsidentschaftskanzlei sind für die Diskreditierung Nawalnys [in der Öffentlichkeit] verantwortlich. Der FSB kontrolliert, was er macht, aber das tut auch das Innenministerium. … Theoretisch ist es möglich, dass Putin die Vergiftung Nawalnys angeordnet hat, aber es scheint nicht sehr wahrscheinlich. Warum gerade jetzt? … Und warum hätte Putin Nawalny zur Behandlung nach Berlin lassen sollen? Diese Entscheidung ist ganz sicher ohne den Segen Putins getroffen worden. Es sieht sehr danach aus, als ob niemand mehr die Jagd auf Nawalny leitet, nicht einmal Putin selbst. Führt er denn das Land noch?“
Warnung an die Russen
Sollte Nawalny tatsächlich vergiftet worden sein, kann das für Polityka nur aus einem Motiv heraus geschehen sein:
„Putin offenbart seine Befürchtungen, seine Angst vor einer demokratischen Bewegung, davor, dass der belarusische Aufstand die Russen anstecken könnte. Denn der Aufstand im Nachbarland könnte ein Signal an die Gesellschaft sein, dass auch sie ihre Unzufriedenheit ausdrücken, auf die Straße gehen und aufbegehren kann - wie die Menschen in Chabarowsk im fernen russischen Osten, die seit Wochen gegen die Inhaftierung des Gouverneurs protestieren, kürzlich unter dem Motto 'Lang lebe Belarus!'. Der mutmaßliche Angriff auf Nawalny sollte die Russen einschüchtern und ihnen den Gedanken an den belarusischen Weg aus dem Kopf schlagen. Es kann sich jedoch herausstellen, dass das zu einem ganz anderen Ende führt.“
Russischer Staat auf der Anklagebank
Als Verantwortlicher für Nawalnys Vergiftung kommt eigentlich nur der russische Geheimdienst in Frage, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Wirkstoffe, wie sie die Charité und die mit ihnen verbundenen unabhängigen Forschungsinstitute als Ursache der Erkrankung identifiziert haben, gelangen nicht einfach über einen 'Unfall' in den menschlichen Körper. Faktisch handelt es sich um eine Chemiewaffe. Nebst krimineller Energie braucht es viel chemisches Know-how und ausgeklügelte organisatorische Strukturen, um eine solche Waffe herzustellen und gezielt einzusetzen. Das sind Voraussetzungen, die fast nur ein staatlicher Geheimdienst erfüllt. ... Mit dem Befund vom Montag sitzt der russische Staat auf der Anklagebank.“
Der Kreml strickt schon an den Legenden
Echo Moskwy beklagt die Desinformation der russischen Staatsmedien in diesem Fall:
„Jetzt wissen wir, warum es wichtig war, ihn schnellstmöglich nach Berlin zu bringen. Aus der Omsker Klinik wäre er nur als Leiche oder Invalide herausgekommen. ... Die Staatsmacht und ihr Propaganda-Apparat können das Offensichtliche nicht anerkennen. Deshalb werden wir alsbald hören, dass Nawalny von seinen eigenen Leuten vergiftet wurde, weil seine Popularität nachließ, dass es doch Wodka mit Koffein war oder dass die Deutschen sich alles ausgedacht haben, weil der Westen Nawalny sponsert, und dergleichen.“
Ein Fall für Den Haag
Bisher kam die politische Führungsriege noch immer ungeschoren davon, empört sich Aftonbladet:
„Der frühere russische Oppositionsführer, der Liberale Boris Nemtsow, wurde im Februar 2015 unweit der Kreml-Mauern auf offener Straße von hinten erschossen. Der abgesprungene KGB-Agent Sergej Skripal und seine Tochter Julia überlebten 2018 im britischen Salisbury knapp einen Mordversuch mit dem Militär-Nervengift Nowitschok. Und nun also Alexej Nawalny. Hoffentlich überlebt er. ... Der russische Geheimdienst hat offenbar nicht sonderlich viel Phantasie; zudem schert man sich wenig darum, dass die ganze Welt begreift, wer hinter der hohen Todesrate unter russischen Oppositionellen steht. In einer gerechten Welt stünde die gesamte russische Staatsführung längst vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.“
Neuer Zündstoff für deutsch-russische Beziehungen
Das Verhältnis zwischen Moskau und Berlin hat sich weiter verschlechtert, analysiert Berlin-Korrespondentin Tonia Mastrobuoni in La Repubblica:
„Zwei weitere Fälle sorgten in den vergangenen Monaten für Spannungen in den Beziehungen zwischen Moskau und Berlin. Die deutschen Ermittler, die den Mord an einem tschetschenisch-georgischen Dissidenten im Sommer 2019 in Berlin untersuchen sowie den massiven Cyberangriff gegen den Bundestag im Jahr 2015, sind zu dem Schluss gekommen, dass der Verdächtige Nummer eins in beiden Fällen der russische Geheimdienst ist. In beiden Fällen reagierte die Regierung Merkel erst nach dem Urteil der Richter - mit der Ausweisung russischer Diplomaten und Drohung europäischer Sanktionen. Im Fall von Nawalny aber hat Berlin unverzüglich Stellung bezogen.“
Warnung an die Opposition
Savon Sanomat stellt Vermutungen darüber auf, was hinter einer Vergiftung stecken könnte:
„Die zeitliche Verbindung von Nawalnys Vergiftung mit den Vorgängen in Belarus ist auffallend. Der Versuch, Nawalny zum Schweigen zu bringen, lässt sich leicht als vorbeugende Maßnahme sehen, mit der den Bürgern gezeigt wird, dass ein Volksaufstand wie in Belarus in Russland nicht geduldet wird. Putins Russland ist nicht die Sowjetunion, denn Kritik am Kreml wird geduldet, solange sie nicht die Machtstrukturen ins Wanken bringt. Russland hat in seiner langen Geschichte nicht einmal die ersten Schritte auf dem Weg zur Demokratie genommen, in der die Opposition eine echte Chance auf Einflussnahme hätte. In Mordversuchen und Morden wiederholt sich leider die blutige Geschichte der Gewalt.“
Drei Varianten denkbar
Echo-Moskwy-Chefredakteur Alexej Wenediktow zeichnet drei Szenarien davon, wer für die mutmaßliche Vergiftung verantwortlich sein könnte:
„Nawalny führte Ermittlungen durch und deckte Betrugsschemen bekannter Politiker und Geschäftsleute auf. Das kann ein Grund sein. Der erste wäre also ein Racheakt bekannter, reicher und mächtiger Leute, die Möglichkeiten haben, so etwas zu tun. Die zweite, von vielen genannte Version wäre der Kreml selbst, der im Vorfeld der Regionalwahlen im September auf diese Weise Nawalny aus dem Spiel nehmen wollte. … Und dann gibt es noch die Version, dass einer der Kreml-Türme, der mit einem anderen Kreml-Turm konträr liegt, diesem seine Möglichkeiten zeigen wollte.“
Putin war es sicher nicht
Dass eine Vergiftung auf Anweisung Putins erfolgte, hält der frühere britische Botschafter in Moskau, Tony Brenton, in The Daily Telegraph hingegen für unwahrscheinlich:
„Der Fall ähnelt stark dem von Boris Nemzow, einem anderen charismatischen Oppositionspolitiker, der 2015 direkt vor dem Kreml ermordet wurde. Auch damals beschuldigte die Welt instinktiv Wladimir Putin - und lag damit ziemlich sicher falsch. Nemzow war dem Regime zu Lebzeiten zwar ein Ärgernis. Doch sein Tod machte ihn zu einem Märtyrer der Demokratie, und als solcher war er für die Opposition ein noch viel stärkerer Antrieb. Das Gleiche würde mit ziemlicher Sicherheit für Nawalny gelten. Putin weiß das. Deshalb glaube ich, dass er den Angriff höchstwahrscheinlich nicht befohlen hat - und stattdessen still und heimlich auf Nawalnys baldige Genesung hofft.“
Jeder Widerständler gilt als Verräter
Die vergiftete Atmosphäre in Russland trägt dazu bei, dass solche Verbrechen geschehen, analysiert der Soziologe Sorin Ioniță auf Contributors:
„Vielleicht hat nicht der Kreml angeordnet, etwas in den Tee von Nawalny in Tomsk zu schütten, vielleicht ist auch die Ermordung von Nemzow nicht auf direkte Anweisung von Wladimir Putin geschehen. Aber die nazi-bolschwestische Atmosphäre der abgeschirmten Festung [Kreml], in der jeder Widerständler des Regimes automatisch als Verräter abgestempelt wird, der von geheimen Kräften gesteuert oder von externen Feinden bezahlt wird, der schlussendlich der russischen Nation schadet, ist schon an sich eine stillschweigende Ermutigung für Jeden, der gefährliche Auswüchse beseitigen will.“
Russland nicht noch weiter versumpfen lassen
Was in Russland geschieht, verdient die absolute Verurteilung durch die internationale Staatengemeinschaft, fordert ABC:
„Russland hat es nicht verdient, in diesem Morast aus Korruption und Kriminalität zu leben, in dem es in den vergangenen Jahrzehnten versunken ist. Diese Art von kriminellen Taten werfen ein Licht auf Putins Umfeld und ihn persönlich, das zeigt, dass ihr Verhalten über das akzeptable Maß politischer Zivilisation weit hinausgeht. ... Dass das Regime von der gesamten Opposition bezichtigt wird, Dissidenten oder Kritiker umzubringen, übersteigt jede tolerierbare Grenze des internationalen Zusammenlebens und verdient die absolute Verurteilung durch den Rest der Welt.“