Haltung gesucht: Wie die EU mit Autokratien umgeht
Die Vergiftung Alexei Nawalnys und das brutale Vorgehen Minsks gegen Oppositionelle werfen in Brüssel die Frage nach einer gemeinsamen Reaktion auf. Für Kommentatoren ein Anlass, darüber nachzudenken, wie sich die EU gegenüber autokratischen Herrschern positioniert. Welche Standards gelten gegenüber welchen Ländern und kann es sein, dass die EU selbst manches Unrechtsregime befördert?
Despoten nutzen die Schwäche des Westens
Russland, Belarus und die Türkei verhehlen nicht einmal mehr die autokratische Natur ihrer Regime, klagt Kolumnist Ezio Mauro in La Repubblica:
„Es ist offensichtlich, dass in den drei Ländern die Schwelle überschritten wurde, vor welcher der Despotismus des jeweiligen Regimes noch maskiert wurde. Die Machthabenden glauben nun, ihr wahres Gesicht zeigen zu können, ohne interne oder internationale Konsequenzen fürchten zu müssen. Sie nehmen die Maske ab, weil der Moment günstig ist, weil etwas in der Welt geschehen ist. Dieses Etwas ist die Schwäche des Westens und die Schwäche der Demokratie - die seine Daseinsberechtigung, seine politische Natur, seine kulturelle Vision darstellt.“
Diktatoren verstehen nur eine Sprache
Einen langsamen Lernprozess im Umgang mit Autokraten beobachtet Népszava:
„Auch die EU trägt Verantwortung dafür, dass mehrere Politiker echte Diktaturen aufgebaut haben. Aufgrund des Flüchtlingspakts mit der Türkei hat die EU Recep Tayyip Erdoğan für seine demokratiefeindlichen Maßnahmen nur vorsichtig gemaßregelt. ... Gegen Russland hat sie nach der Besetzung der Krim 2014 zwar Sanktionen eingeführt, diese hatten aber kaum Auswirkungen. Und nach der manipulierten Wahl in Belarus bereitet die EU jetzt Strafmaßnahmen vor, mit denen Lukaschenka sehr gut leben kann. Es beschleicht einen das Gefühl, dass man den Diktatoren alles durchgehen lässt. ... Allein die Tatsache [dass die Einstellung von Nord Stream 2 zur Diskussion steht], ist ein Zeichen dafür, dass man im Westen vielleicht doch langsam erkennt: Diktatoren sprechen nur ihre eigene Sprache. Nur wenn sie bedroht werden, weichen sie zurück.“
Mit zweierlei Maß
In Russland und Belarus erwägt die EU wenigstens noch, etwas zu unternehmen, ätzt Nahost-Experte Alberto Negri in Il Manifesto, doch
„es ist keine Rede davon, Saudi-Arabien zu sanktionieren, ein Land, das die Menschenrechte systematisch verletzt, oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die zusammen mit Riad den Krieg in den Jemen gebracht und Tausende von Menschen getötet haben - mit US-Jagdbombern und deutschen, auf Sardinien hergestellten Brandbomben. Diese blutrünstigen und antidemokratischen Monarchien sind heute auch deshalb unsere besten Freunde, weil sie mit Israel Frieden geschlossen haben oder bereit sind dies zu tun, und gemeinsam mit Ägypten ein Bündnis zwischen dem jüdischen und arabischen Staaten schmieden wollen, das für Ordnung im Nahen Osten sorgen soll. Eine Art arabische Nato, die den Iran der Ajatollahs und Erdoğans Türkei in Schach halten soll.“
Polen und Ungarn: Mafia mit Wahlen
Auch gegenüber eigenen Mitgliedsländern ringt Brüssel mitunter um eine Haltung, insbesondere mit Blick auf Ungarn und Polen. Gazeta Wyborcza sucht eine geeignete Beschreibung für die aktuellen Herrschaftssysteme in den beiden Ländern:
„Ein in freien Wahlen gewählter Autokrat (oder, wie in Polen, sein Schatten) erhält einen Freibrief, nach Gutdünken zu regieren. Der Staat wird in einen Clan verwandelt, in dem der Herrscher 'Macht und Geld unter allen anderen aufteilt' (Masha Gessen). Es ist eine Mafia, bei der sich der Pate ab und zu Wahlen in der Familie unterwirft.“