Wird Nord Stream 2 gestoppt?
Nord Stream 2 kanalisiert wie kein anderes Projekt den Konflikt zwischen Deutschlands Energiepolitik und seiner Außenpolitik: Ein direkter Zugang zu russischem Gas auf der einen Seite, Verärgerung wichtiger Partner in Europa und den USA auf der anderen. Bislang wurde der Energiepolitik der Vorrang eingeräumt, doch durch den Fall Nawalny steht dies stärker als jemals zuvor zur Debatte.
Kyjiw sollte Werbung für seine Pipeline machen
Serhej Solodkyj und Marianna Fakhurdinova vom Thinktank New Europe Center sehen nun neue Chancen für Kyjiw, wie sie in Ukrajinska Prawda schreiben:
„Jetzt ist es für die Ukraine wichtig, über verschiedene Kanäle deutlich zu machen, dass man ausreichende Transitkapazitäten hat und dass unsere Pipeline technisch in Ordnung ist. Eine Fertigstellung und Inbetriebnahme von Nord Stream 2 würde hingegen der russischen Aggression neue Möglichkeiten eröffnen. … Es geht jetzt nicht darum, ob es Sanktionen geben wird oder nicht. Es geht nur noch darum, welches Ausmaß diese Sanktionen haben werden. Und darum, ob eine neue Welle von Beschränkungen auch ein Verbot der Fertigstellung und der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 beinhalten wird.“
Fruchtlose Mühen der Kanzlerin
Nun könnte sich Merkels Russlandpolitik grundlegend ändern, mutmaßt Denik N:
„Eine der Säulen ihrer Politik war die intensive wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Zusammenarbeit mit Russland. Deutschland und die Bundeskanzlerin haben persönlich unglaublich viel Kapital und Reputation in ihre Beziehungen zu Moskau investiert. Angesichts der Tatsache, dass hochrangige Minister der Bundesregierung und letztendlich die Kanzlerin selbst eingeräumt haben, dass die Vergiftung von Nawalny zu einer Neubewertung der Haltung Deutschlands zu Nord Stream 2 führen könnte, ist es möglich, dass wir uns am Ende einer langen, vielversprechenden, aber leider erfolglosen Reise befinden.“
Pipeline-Bau aus Trotz
Für Sme könnte allein eine Person dafür sorgen, dass Nord Stream 2 fertiggestellt wird:
„Nur Freunde des heutigen Lobbyisten Gerhard Schröder in der SPD und die komplette Linkspartei machen sich noch für die Fertigstellung der Pipeline stark. CDU und CSU sind gespalten, FDP und die einflussreichen Grünen sind für einen Stopp. Bei den Grünen kommt das überraschend, plädierten die doch immer dafür, Nord Stream 2 zu bauen, damit Atomkraft und Kohle abgeschaltet werden könnten. … Das Wichtigste wird jetzt sein, dass Trump keine Kommentare abgibt. Was die Deutschen stärker an die russische Gaspipeline bindet als Schröder und seine Gaslobby, sind Trumps Forderungen, den Bau einzustellen.“
Bitte nicht auf Putins Niveau herablassen!
Berlin wäre schlecht beraten, Nord Stream 2 zu stoppen, meint Die Presse:
„Es ist ein strategischer Fehler, die Konsequenzen dieser Tat an ein konkretes privatwirtschaftliches Projekt zu knüpfen. Noch dazu an eines mit einer derart großen Bedeutung für die Versorgungssicherheit Europas. Damit begibt sich Deutschland auf das Niveau politischer Auseinandersetzung, für das es Wladimir Putin stets kritisiert: Die Wirtschaft dafür zu missbrauchen, Machtpolitik zu betreiben und nationale Interessen durchzusetzen. Umso ungeschickter, dass es in diesem Fall sogar den eigenen - und europäischen - Interessen diametral gegenübersteht. ... Wenn man bedenkt, dass Deutschland bis 2023 aus der Atomkraft aussteigt und gerade seine Kohlekraftwerke ... vom Netz nimmt, ist es fast schon fahrlässig, auf einen direkten Strang mit 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr zu verzichten.“
Berlin wird diese Freundschaft nicht riskieren
Wenig Hoffnungen auf harte Strafmaßnahmen gegen Russland macht sich die Kolumnistin Xenia Tourki in Phileleftheros:
„Es ist klar, dass sich Berlins besondere Beziehungen zu Moskau wegen Nawalny nicht verschlechtern werden. Sie haben sich trotz der heftigen Kontroversen nach der Krimkrise 2014 nicht verschlechtert, und die deutsch-russischen Beziehungen sind nie eingefroren. Das Bündnis der beiden Länder ist stark. So stark, dass Deutschland die Interessen seiner europäischen Partner an zweite Stelle stellt, um Russland nicht zu verärgern.“
Liberale verdienen lieber als zu strafen
Die Politologin Lilija Schewzowa erklärt in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post, warum sich Europa mit strengen Sanktionen gegen Russland schwertut:
„Liberale Demokratien schlagen ungern zu. Nicht nur aus Angst vor einer Gegenreaktion Russlands, sondern weil sie fürchten, das russische Konstrukt könnte anfangen zu kollabieren. Und was dann? Wichtig ist auch, dass liberale Demokratien Russland ungern weh tun, weil Russland in die westliche Ökonomie integriert und die russische Elite verwestlicht ist. Russlands herrschende Klasse hat im Westen längst einen Schutzwall aufgebaut, bestehend aus einer ganzen Schicht, die ihre Bedürfnisse bedient. Ex-Kanzler Schröder als Laufbursche von Rosneft ist dafür ein Beispiel. Deshalb ist die westliche Antwort oft nur eine Seifenblase. Und für Moskau Anlass zum Schulterzucken und Grinsen.“
Gasimporte herunterfahren
Um eine Reduzierung der Gasimporte aus Russland kommt Europa nicht herum, meint Kauppalehti:
„Die USA würden von Sanktionen, die sich gegen russisches Gas richten, profitieren. Das wäre während Trumps Amtszeit verständlicherweise eine bittere Pille. Ungeachtet der Abscheu gegenüber Trump sind die Interessen der USA aber langfristig für Europa wichtiger als die Interessen Russlands. Genau deshalb sollte der Gasimport aus Russland verringert werden. … Die Pipeline Nord Stream 2 kann zu Ende gebaut werden, aber der Gaskauf von Putins Gefolgsleuten muss stark reduziert werden. So stark, dass es schmerzt. Es gibt keinen Zweifel, dass dieser Schlag sein Ziel trifft und effektiv ist. Denn gerade die Einnahmen aus dem Energieexport sichern die Stellung von Putin und der ihn umgebenden Elite.“
Pipeline-Stopp kann Moskau wirklich wehtun
Auf die Erklärungen Moskaus sollte niemand hereinfallen, rät Blick:
„Russland hat das Drehbuch längst geschrieben: Erst wurde der Giftanschlag geleugnet, jetzt werden die Ermittlungen verzögert. Der nächste Schritt ist grossflächige Desinformation. ... Die Schweiz darf dabei nicht länger zuschauen. Und sie hat einen Hebel in der Hand: Als Kundin kann sie sich bei Deutschland für einen Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 einsetzen. ... Das umstrittene Projekt auszusetzen, wäre vergleichsweise einfach und träfe Moskau einseitig empfindlicher als Wirtschaftssanktionen. Ohne Androhung konkreter Strafen wird jegliche Verurteilung ... ohnehin keinen Eindruck hinterlassen.“
Kein Wahlerfolg ohne russische Wärme
Das Dilemma, in dem die deutsche Politik steckt, erklärt Radio Kommersant FM:
„Berlin sagt, dass die Gaspipeline fertiggebaut werden soll - egal, was passiert ist. Andererseits mehren sich im Land die Stimmen, die sagen, dass man gerade dieses Projekt aufkündigen muss, da es de facto ein Symbol der aktuellen russischen Politik sei. Allerdings wollen es die Deutschen im Winter auch warm haben, günstige Energie ist für sie unverzichtbar. Davon hängt auch der Wahlerfolg von Politikern ab. Deshalb wäre es besser, wenn Russland sich erklärt. All diese Zweifel und, sagen wir es ehrlich, offensichtlichen Schwächen des sogenannten 'kollektiven Westens' hat der Kreml nur zu gut erkannt. Deshalb wird sich dort niemand Asche aufs Haupt streuen.“
Berlin wirft all sein Gewicht in die Waagschale
Sollten Sanktionen gegen Russland beschlossen werden, hält der Politologe Konstantin Eggert in Obozrevatel Gegenschläge Moskaus für wahrscheinlich:
„Zu den möglichen Optionen gehören ein Ausstieg aus dem Minsker Abkommen, eine demonstrative Unterstützung der Türkei (im Konflikt mit Griechenland) und Lukaschenkos im Kampf gegen das eigene Volk sowie eine massenhafte Verhaftung von Nawalny-Anhängern in Russland. Damit kann man bei den 'weichen Europäern' einen Schuldkomplex hervorrufen und sie zu einem weiteren 'Dialog' zwingen. Die deutsche Regierung hat Verantwortung übernommen für das Schicksal von Nawalny und damit einen sehr schwerwiegenden Schritt gemacht. Nun ist es fast unmöglich, diese moralische Verantwortung ohne Verluste aufzugeben.“
Merkel legt die Samthandschuhe ab
Einen Strategiewechsel Merkels im Umgang mit Russland glaubt Der Standard zu erkennen:
„In nie dagewesener Deutlichkeit und Härte ging eine Botschaft von Berlin nach Moskau, und mit Liebesgrüßen hatte diese so gar nichts zu tun. Undiplomatisch ausgedrückt, ist Merkel der Kragen geplatzt. Oder: Sie hat die Nase voll von Moskaus Abwiegeln und Unschuldslamm-Attitüde im Fall Nawalny. ... Merkel ... will es nicht mehr bei der bisher vergleichsweise wohldosierten Kritik belassen, sondern schlägt jetzt eine härtere Gangart ein. ... Es geht dabei nicht um ein Duell zwischen ihr und Putin, sondern ... um einen Zweikampf der Werte, und dafür will Merkel auch die EU mobilisieren. ... Die Zähmung Putins - oder vielmehr der Versuch - ist vielleicht ihr letzter Kraftakt während der deutschen EU-Präsidentschaft.“
Hat Moskau sein tödliches Arsenal unter Kontrolle?
Es handelt sich bei der Vergiftung keineswegs um eine interne Angelegenheit Russlands, stellt El País klar:
„Russland ist eine Atommacht und die Welt hat ein Recht darauf, zu wissen, ob die giftigen und radioaktiven Stoffe, die es besitzt, gut aufgehoben und unter Kontrolle sind, oder ob stattdessen eine Bande beleidigter und rachsüchtiger Fanatiker diese Mittel für kriminelle Zwecke benutzt und damit weltweit Unsicherheit auslöst. In Deutschland fordern sogar die moderatesten Politiker eine Antwort, wenngleich sie auf der Notwendigkeit bestehen, den Dialog mit Moskau nicht abzubrechen. ... Europa braucht Russland, aber nicht um den Preis der Angst, den Gifttod von Putins Gegnern mit ansehen zu müssen.“
Legenden aus einem deutschen Labor
Das russische Staatsmedium Ria Novosti kennt eine Reihe von Gründen, die gegen den Nowitschok-Befund des Bundeswehrlabors sprechen:
„Schwer zu sagen, was an der von den Deutschen vorgelegten Legende am meisten verwundert: Dass ein supertödlicher Giftkampfstoff ein ums andere Mal bei den Versuchen versagt, der russischen Staatsmacht lästige Menschen zu liquidieren - man ihn aber dennoch stur weiter benutzt? Oder dass Nowitschok, wegen dem man beinahe halb Salisbury abgerissen hätte, gegen Nawalny in einem Flugzeug eingesetzt wurde - ohne Folgen für die übrigen Passagiere, die Ärzte und andere Menschen? Oder dass Russland den Blogger zur Behandlung ins Ausland gelassen hat - um sich mit Garantie einen internationalen Skandal einzuhandeln, wenn der Kampfstoff nachgewiesen wird?“
Russland kann kein Partner mehr sein
Für Berlin kann es nun kein Weiter so im Verhältnis zu Russland mehr geben, erklärt die Süddeutsche Zeitung:
„Mit dem Angebot medizinischer Hilfe für Nawalny hat die Bundesregierung auch politische Verantwortung übernommen. Die unmissverständliche Reaktion auf die Erkenntnisse über die Natur der Vergiftung Nawalnys zeigt, dass ihr das bewusst ist. Für Deutschland und die Europäische Union bedeutet das nun nicht die erste, aber eine weitere tiefe Zäsur im Verhältnis zu Russland. Mit Kritik, auch scharfer, wird es nicht getan sein. Auch nicht mit neuen geringfügigen Sanktionen. Wer von der verbrecherischen Natur des Systems Putin überzeugt ist, wird dort nicht mehr suchen können, was dort nicht zu finden ist: einen Partner.“
Zivilgesellschaft stärken, Nord Stream 2 stoppen
Deutschland hat einige Möglichkeiten, um nun klar Position zu beziehen, meint Judy Dempsey vom Thinktank Carnegie Europe in nv.ua:
„Wenn Berlin oder Paris Nawalny Asyl anbieten würden, würde das dem Kreml einen weiteren wichtigen Dissidenten aus dem Weg räumen. Stattdessen könnte die deutsche Regierung die russische Zivilgesellschaft noch stärker fördern. ... Und vor allem kann Merkel Nord Stream 2 stoppen. ... Deutschland hat keine politischen oder wirtschaftlichen Gründe, sich noch mehr von russischer Energie abhängig zu machen. … Eine fortgesetzte Beteiligung an dem Projekt ist eine Verhöhnung der Politik Europas und Deutschlands, die ja ihre Energiequellen diversifizieren wollen.“
Auch Beziehungen zu Berlin vergiftet
Kirill Schulika, Blogger und Vizechef der rechtsliberalen Partei Demokratische Wahl, sieht Russland in der Zwickmühle, wie er in einem Facebook-Post schreibt, den newsru.com übernommen hat:
„Entweder startet Russland jetzt Ermittlungen, wobei selbst ein formelles Vorgehen die Gefahr birgt, sich selbst zu überführen. Oder es gibt neue Sanktionen, und zwar solche, gegen die die gegen Belarus verhängten wie Kinderkram wirken. Plus verdorbene Beziehungen zu Deutschland - sie werden so wie die zu Großbritannien nach dem Fall Skripal. Die Propaganda brabbelte die ganze Zeit: Seht, die Deutschen schweigen. Jetzt schweigen sie nicht mehr: Das Gift ist gefunden und man kann noch so oft wiederholen, dass das Fakenews seien. Außer denjenigen, die für russisches Staatsgeld idiotische Versionen der Geschichte verbreiten, glaubt das in der Welt niemand mehr.“
Putin wird nichts unternehmen
Putin hätte jetzt noch die Möglichkeit, eine härtere Gangart des Westens zu verhindern, glaubt Russland-Expertin Anna Zafesova in La Stampa:
„Es ist eine letzte Chance für den Kreml, auf die Bremse zu treten, kurz vor dem Zusammenprall, der neue Sanktionen und diplomatische Boykotts zur Folge haben dürfte. ... Eine Hoffnung, die sich in den kommenden Tagen vermutlich zerschlagen wird. Denn in den zwei Wochen, in denen Nawalny im Koma lag, hat die russische Regierung die bloße Tatsache der Vergiftung geleugnet, während jede Anschuldigung mit dem Argument zurückgewiesen wird, das immer verwendet wird, wenn ein Gegner des Kremls Opfer eines Angriffs ist: Der am meisten geschädigte sei Putin selbst. Putin geht sicherlich geschädigt aus der Sache heraus. Aber er unterlässt genau das, was ihm helfen könnte: Nämlich die Schuldigen zu finden und zu bestrafen.“
Nicht mal Sterbende beeindrucken Merkel
Doppelmoral wirft Rzeczpospolita der deutschen Regierung vor:
„Auf die Frage, ob der Kreml mit der Aufgabe des Nord-Stream-2-Projekts bestraft werden könne, wie es selbst mehrere einflussreiche Vertreter von Merkels eigener Partei, der CDU, fordern, antwortete die Bundeskanzlerin, dass der Fall Nawalny gesondert behandelt werden müsse. Mit anderen Worten: Nichts, auch nicht der Anblick russischer Oppositioneller, die in unseren Armen sterben, wird uns von der intensiven Zusammenarbeit mit dem Kreml abbringen.“