Brexit: Keine Einigung über Steinbutt und Muscheln
Großbritanniens Premier Johnson ist am Mittwoch nach Brüssel gereist, um mit EU-Kommissionschefin von der Leyen persönlich über den Brexit zu verhandeln. Ein gemeinsames Abendessen mit maritimem Menü blieb jedoch ohne Ergebnis. Einigen sich Großbritannien und die EU bis 31. Dezember nicht auf ein Abkommen, droht der No-Deal-Brexit. Medien hoffen weiterhin auf eine friedliche Einigung.
Der Wind bläst aus einer anderen Richtung
Johnson ist inzwischen milder gestimmt als die Hardliner seiner Partei, glaubt El Periódico de Catalunya:
„Selbst wenn das Gros der britischen Exporte nach Europa geht, herrscht [bei Teilen der Konservativen] die Einstellung vor, dass Großbritanniens Chancen auf neue außereuropäische Kunden zu besseren Bedingungen wachsen, je weniger Einschränkungen den Exportmarkt behindern. Donald Trump fachte solche Hoffnungen an, indem er ein großes Freihandelsabkommen mit dem Königreich versprach. Doch der künftige Einzug Joe Bidens ins Weiße Haus kündigt einen Richtungswechsel an, von dem die Europaskeptiker auf den Inseln noch nichts mitbekommen haben. Johnson schon. Vielleicht ist er deshalb nach Brüssel gereist.“
Engländer verdienen mehr als Hohn und Spott
Vor einer einseitig negativen Sicht auf die Briten insbesondere in Irland warnt The Irish Times:
„England ist sehr lange ein Zufluchtsort für Iren gewesen, die vor sozialer Ausgrenzung und Erniedrigung fliehen mussten oder ein anständiges Leben suchten. Jetzt, da sich die Kluft vertieft und unsere Angst und Wut zunehmen, müssen wir eine Entscheidung treffen. Sehen wir uns selbst als die bitteren, unterdrückten Opfer des britischen Imperialismus? Oder betrachten wir unser Land als starkes, stolzes Mitglied einer Europäischen Union mit anständigen, friedlichen, pluralistischen Grundwerten? Dieses Selbstbild würde Edelmut und Großzügigkeit gegenüber der äußerst vielfältigen englischen Öffentlichkeit zulassen, die irregeführt und manipuliert wurde.“
Vor Miesmacherei hüten
Britische EU-Befürworter sollten nach dem Brexit nicht der Versuchung erliegen, von ihnen vorhergesagte negative Folgen genüsslich auszuschlachten, rät Financial Times:
„Mit den Pro-Brexit-Medien im Rücken wird es für die Konservativen ein Leichtes sein, berechtigte Kritik als Miesmacherei jener abzutun, die sich ein Scheitern Großbritanniens wünschten. Und wie verrückt es auch klingen mag, für eine Weile wird das funktionieren. Die meisten Wähler wollen nicht, dass der Brexit in einer Katastrophe endet. Sie müssen hier ihr Leben führen und wünschen sich, dass Großbritannien aufblüht. Sie wissen, dass die erste Phase schwierig wird, und werden der Regierung Zeit geben, die Wogen zu glätten. Doch ihre Geduld wird nicht ewig währen: Wenn sie zu dem Schluss kommen, dass der Brexit in einer Katastrophe endet, werden sie wissen, wer daran schuld ist.“
Wir Brexit-Gegner waren zu engstirnig
Mit der Weigerung, die Niederlage bei der Volksabstimmung anzuerkennen, haben die britischen EU-Befürworter den Brexit-Prozess vergiftet, übt sich der EU-freundliche Kolumnist Owen Jones in The Guardian in Selbstkritik:
„Jede mögliche Brexit-Option wurde schlechtgeredet, man pochte auf ein neuerliches Referendum oder auf den Abbruch des Brexit-Prozesses ohne Rücksprache mit dem Volk. ... Von Anfang an hätte unsere Seite - die der EU-Befürworter - ihre Niederlage bei einer demokratischen Abstimmung akzeptieren sollen. ... Wir hätten uns darauf einigen sollen, für die engstmögliche Beziehung mit der EU zu kämpfen. Aber alles andere als eine Umkehr des Brexit wurde als katastrophal für das Land und moralisch unhaltbar verworfen. Im Ergebnis stehen wir nun unmittelbar vor dem härtestmöglichen Brexit mit all seinen schrecklichen Konsequenzen.“
Nach der Deadline ist vor der Deadline
Das Dauerthema wird die Europäer noch lange beschäftigen, prophezeit Ilta-Sanomat:
„Auch wenn das Abrutschen in einen Zustand ohne Abkommen die Brexit-Schäden schlimmer machen würde als unbedingt nötig, so würde auch dann der Kontakt nicht vollständig und endgültig abbrechen. Es begänne nur wieder eine neue Phase im Brexit-Prozess, in der alle Beteiligten ihre Wunden lecken und Wege suchen, die Schäden abzufedern. … Deswegen wäre ein Abkommen in letzter Minute nur eine neue Zwischenphase, nach der wieder neue Verhandlungen aufgenommen würden, um die Beziehungen zu verbessern und die Schäden zu reparieren.“
Immer die gleiche Taktik
Das Herauszögern ist der Kern der britischen Strategie, kommentiert Les Echos:
„In den letzten viereinhalb Jahren war Londons Taktik stets die gleiche: die Verhandlungen bis an die äußerste Grenze zu treiben, um das europäische Lager zu spalten. ... Um dann zu versuchen, in letzter Minute Vereinbarungen zu erreichen, die es dem Vereinigten Königreich letztlich erlauben würden, seine volle Souveränität wiederzuerlangen und gleichzeitig einen privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu behalten, von dem es auf grausame Weise abhängig ist. Widersprüchliche Forderungen, die den Bedingungen der 27 entgegenstehen. Für diese ist es undenkbar, kommerzielle Vorteile ohne Garantie für einen fairen Wettbewerb zu gewähren. Die Europäische Union hat Grenzen gesetzt. Sie muss bis zum Ende an ihnen festhalten, trotz des Schreckgespenstes eines 'No Deal'.“
Brüssels Sturheit geht auf unser aller Kosten
Ein Scheitern der Verhandlungen wäre vor allem für Großbritannien folgenschwer - aber nicht nur, warnt The Irish Independent:
„Diejenigen, die auf EU-Seite auf No-Deal drängen, könnten sich im Nachhinein als geschickte Verhandler erweisen. Es könnte sein, dass Großbritannien Anfang 2021, nach dem Ende der Übergangsphase, einige Wochen und Monate unter Engpässen, Protesten und politischen Umwälzungen leiden wird und die politischen Führer des Landes entsprechend gedemütigt an den Verhandlungstisch zurückgezwungen werden. Aber hier wird zweifellos ein extrem hohes Risiko eingegangen, bei dem in unser aller Namen unsere Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen mutwillig aufs Spiel gesetzt werden. Die Errichtung neuer Handelshemmnisse würde uns allen schaden. Ungewiss wäre nur das Ausmaß des Schadens.“
So könnte es klappen
Der Deutschlandfunk hat konkrete Vorschläge für eine Einigung:
„Ist es fair, dass britische Fischer nicht einmal zwei Fünftel der Fische in ihren Gewässern fangen dürfen? Die EU sollte sich da flexibel zeigen. Auch die britische Forderung nach einer neutralen Streitschlichtung ist nachvollziehbar. Gerade für die Hardliner auf der Insel war doch der Europäische Gerichtshof stets ein rotes Tuch. Andererseits hat die EU sämtliches Recht, auf fairem Wettbewerb zu bestehen. Denn ein Großbritannien mit Sozial- und Umweltdumping sowie unkontrollierter Staatsförderung für Firmen würde in der Tat den Wettbewerb verzerren. An diesem Punkt muss Premier Boris Johnson Zugeständnisse machen – und er wird sie machen.“
Durchwurschteln ist Europas Stärke
Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp fragt sich, warum bei Krisen in Europa immer in allerletzter Sekunde eine Lösung gefunden werden muss:
„Ich würde es total verstehen, wenn eine wütende Angela Merkel Ungarn und Polen mit einem harten deutschen Tritt aus der EU schmeißt - das Diktatoren-Pack aus Warschau und Budapest will zwar die Milliarden-Subventionen, schert sich aber nicht um den europäischen Rechtsstaat. Oder wenn EU-Unterhändler Barnier die Verhandlungen mit den Briten stoppen und ihnen viel Erfolg wünschen würde mit ihrem No-Deal-Brexit: gut gemacht, fantastisch, viel Erfolg in der Warteschlange beim Zoll, lads. Aber so geht es eben nicht. In der letzten Zehntel-Sekunde vor 12 einigen sie sich. Ich hätte das wegen der Deutlichkeit lieber anders. Aber sich durchzuwurschteln ist die Stärke von Europa. Krise gelöst, auf zur nächsten Krise. “
Als Drittstaat hat London die Fischerei-Hoheit
Die Tageszeitung Die Presse fordert ein Entgegenkommen der EU im Fischereisektor, der wirtschaftlich kaum relevant, aber einer der letzten Stolpersteine auf dem Weg zu einer Einigung ist:
„[S]eit vielen Jahren – länger als Großbritannien Teil der EU ist – durften Fischer vom Kontinent vor der Insel ihre Netze auswerfen. Jetzt will London die Souveränität über die Fische in seinen Hoheitsgewässern zurück. Ein symbolisches, aber letztlich verständliches Unterfangen. ... Großbritannien ist jetzt ein Drittstaat. Und als solcher ist er zu behandeln. Daraus folgt allerdings auch, dass die ehemaligen EU-Partner keinen Anspruch mehr darauf erheben dürfen, in den britischen Hoheitsgewässern zu fischen. Sie müssen ihren Preis dafür bezahlen, müssen jene Quoten akzeptieren, die London ihnen gewährt. Es darf einfach nicht sein, dass allen voran Paris London bei diesem Nebbich-Thema noch einmal rempelt.“
Freihandel und Schlichtung unbedingt regeln
In den entscheidenden Fragen darf Brüssel gegenüber London aber nicht nachgeben, appelliert The Irish Independent:
„Die EU fordert, dass Großbritannien in den Bereichen staatliche Beihilfen und Umwelt- sowie Arbeitsrecht EU-Standards beibehält. Diese bedeuten eine große finanzielle Belastung für Unternehmen. Großbritannien ist zu groß und zu nah an der EU, um hier ein Risiko eingehen zu können. Großbritannien darf ein weiterhin freier Handel mit der EU nicht leichtfertig gewährt werden, ohne dass es entsprechende Garantien gibt. Der freie Handel ist gerade für Irland zur Erhaltung des Wohlstands besonders wichtig. Eine weitere Forderung der EU ist jene nach einem funktionierenden Streitbeilegungsmechanismus. Ein solcher ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung, wenn man bedenkt, dass London damit droht, den besonderen Status Nordirlands einseitig zu ändern.“
Der Alptraum rückt näher
Seznam Zprávy glaubt nicht mehr an eine Einigung zwischen Europäern und Briten:
„Die Verhandlungsführer bestehen zwar immer noch darauf, dass das möglich sei, obwohl sie vermutlich selbst nicht mehr daran glauben. ... Dennoch zeichnen sich Antworten auf einige Fragen ab. Zum Beispiel werden die Europäer ab dem 1. Januar nicht mehr über Nacht entscheiden können, ihre Sachen zu packen und ihr Glück auf den britischen Inseln zu versuchen. Voraussetzung dafür ist ein Stellenangebot mit einem jährlichen Mindesteinkommen von über 25.500 Pfund. Einigen Studien zufolge erreichen fast zwei Drittel der EU-Arbeitnehmer diese Gehaltsschwelle nicht. Das wird unter anderem den britischen Pflegesektor treffen, der auf den Schultern der Europäer liegt.“