Privilegien für Geimpfte: Ist die Zeit gekommen?
Die Debatte darüber, ob gegen Covid-19 geimpfte Personen, so wie Dänemark und Schweden es planen, schneller in ein normaleres Leben zurückkehren sollen als Ungeimpfte, ebbt nicht ab. Europas Presse wägt Chancen und Gefahren ab.
Arbeitnehmerrechte in Gefahr
Am Beispiel Israels zeigt sich, welche rechtlichen Probleme solche Privilegien bergen, mahnt Polityka:
„Die Regierenden in Israel haben insbesondere ein Problem mit der Gewährleistung von Arbeitnehmerrechten. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Raz Nizri gab zu, dass Arbeitgeber unter besonderen Umständen von ihren Arbeitnehmern eine Impfung verlangen können. Bei Lehrern gibt es ebenfalls ein Problem: Jeder vierte Lehrer weigert sich, sich impfen zu lassen, was möglicherweise andere Mitarbeiter und Schüler gefährdet, die nicht geimpft werden können. Derzeit gibt es in Israel eine Diskussion darüber, ob Schulpersonal gezwungen werden kann, sich impfen zu lassen. Einige Kommunalverwaltungen möchten ungeimpften Lehrern ausdrücklich den Schuleintritt verbieten.“
Nur im Ausnahmefall
Unter strengen Voraussetzungen sind Vorteile vertretbar, finden Rechtsprofessorin Andrea Büchler und Innovationsethiker Jean-Daniel Strub in der Neuen Zürcher Zeitung:
„Eine Ungleichbehandlung nach Impfstatus lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn die Impfung nicht nur die geimpfte Person zu schützen, sondern auch die Übertragung des Virus wirksam einzuschränken vermag. Auch kann sie erst zum Tragen kommen, wenn sichergestellt ist, dass alle, die dies wünschen, Zugang zur Impfung haben werden. ... In einigen Fällen kann es aber legitim sein, für eine begrenzte Zeit den Zugang zu einer Aktivität vom Vorlegen eines Impfnachweises abhängig zu machen. Voraussetzung dafür ist, dass es keine weniger einschneidenden Massnahmen gibt, um den Schutz aller Betroffenen zu gewährleisten. ... Ein ungleicher Zugang zu Leistungen sollte jedenfalls eine eng begrenzte Ausnahme bleiben.“
Die Entscheidung ist schon gefallen
Der Druck, Öffnungen für Geimpfte zu ermöglichen, wird steigen, glaubt das Tageblatt:
„Vor allem die Tourismusindustrie fragt sich, was ihr Geschäft mittelfristig am meisten bremst: die gesetzlichen Restriktionen oder die Angst der Kunden um ihre Gesundheit. Über Ersteres wird zwar am lautesten gestritten. Letzteres dürfte aber die schweigende Mehrheit prägen. Eine mögliche Lösung: Sicherheit schaffen, indem nur Geimpfte über die Grenze, ins Kino oder ins Hotel dürfen. ... Schon heute darf ein Passagier, der beweisen kann, innerhalb der letzten drei Monate eine Covid-19-Infektion überstanden zu haben, unbehelligt über den Flughafen nach Luxemburg einreisen. Allen anderen Flugreisenden wird ein Tupfer tief in den Rachen gesteckt. Dass diese Bevorteilung morgen auf Geimpfte ausgeweitet wird, wäre nur konsequent.“
Diskriminierungsdebatte ist Zeitverschwendung
Impfpässe sind die logische Fortsetzung der Krisenbekämpfung und helfen allen, meint Krónika:
„Man denke nur daran, wie viel Steuergeld der Staat für die Umsetzung der Impfungen ausgibt, während die Wirtschaft für die Beschränkungen einen sehr hohen, unsere nähere Zukunft zerfressenden Preis bezahlt. Mit jeder Impfung kommt die Bewältigung der Wirtschaftskrise näher, aber nur, wenn die bereits immunisierten Menschen frühestmöglich zu ihrer nahezu normalen Lebensweise zurückkehren. Diesbezüglich über Diskriminierung zu meditieren ist momentan nichts anderes als schädliche Zeitverschwendung.“
Entscheidung nicht der Wirtschaft überlassen
Der Staat sollte die Führung bei Lockerungen für Geimpfte nicht aus der Hand geben, ergänzt Der Standard:
„Klar, das Argument, es dürfe keine Zweiklassengesellschaft aus Geimpften und Nichtgeimpften entstehen, wiegt schwer. Das tut es aber auch dann, wenn zwei Klassen entstehen, weil Unternehmen nur noch geimpfte Personen einlassen, befördern oder bespaßen. Der Staat darf Entscheidungen wie diese nicht der Wirtschaft überlassen. Er muss also erstens Impfungen rasch, gratis und niederschwellig zur Verfügung stellen und zweitens Regeln aufstellen, wie er seinen Bürgerinnen und Bürgern langsam, aber sicher ihre Freiheit wiedergibt.“
Pässe könnten Ungleichheit verschärfen
Große Bedenken äußert The Irish Times:
„Die bislang weltweit ungleiche Verfügbarkeit von Impfstoffen ist ein beschämendes Spiegelbild struktureller Ungleichheiten. Es darf nicht sein, dass die Reichen in den Urlaub fahren und quasi wieder ein normales Leben führen können, während man in den armen Ländern ausharren und in vielen Fällen gänzlich ungeschützt den Kampf gegen diese Krankheiten führen muss. Innerhalb der Länder könnten Impfprogramme, die älteren Bürgern Vorrang geben, zu einer unfairen Diskriminierung von jüngeren Menschen führen. Dabei haben viele von ihnen schon während der Pandemie unter dem Verlust von Bildung und sozialer Entwicklung gelitten.“
Realität wird Diskussion überholen
Mehrere französische Minister haben sich gegen Impfpässe ausgesprochen. Die Haltung ist antiquiert und isoliert Frankreich, kritisiert Le Point:
„Die Ablehnung eines Impfpasses ähnelt einem Rückzugsgefecht. ... Denn den bedauernswerten Impfkandidaten ein freieres, mobiles und reichhaltiges Leben zu verweigern, bedeutet, sie gewissermaßen doppelt zu bestrafen. Doch selbst in Zeiten des Mangels könnten die Fakten den ethischen Warnungen zuvorkommen. Frankreich ist nämlich nicht allein auf der Welt und Europa bei diesem Thema gespalten. Im Norden wollen Schweden und Dänemark einen 'Corona-Pass' einführen, um die seit einem Jahr beschränkten Aktivitäten wieder zu ermöglichen. ... Im Süden vergessen Spanien, Italien, Portugal, Griechenland und Zypern nicht den Anteil des Tourismus an ihrer Wirtschaft.“