Erster Papst im Irak: Hoffnungszeichen in der Krise?
Papst Franziskus hat übers Wochenende den ersten Besuch eines Papstes im Irak überhaupt absolviert, sein erste Reise nach einem Jahr Corona-Pause. Unter dem Motto Geschwisterlichkeit traf sich der Pontifex mit den wichtigsten Vertretern der Muslime und der christlichen Minderheiten im Land. Kommentatoren sprechen von einer Geste der Solidarität und des Dialogs unter schwierigen Vorzeichen.
Verspätete Anteilnahme
Das Bild von Papst Franziskus und Großajatollah Ali Sistani Hand in Hand ist berührend, erklärt Fehim Taştekin in Gazete Duvar:
„Die Geste zweier religiöser Autoritäten, die bereit sind, einander zuzuhören und zu verstehen, ist historisch. ... Um die Schmerzen der Region zu teilen, die die Bush-Regierung mit 'Kreuzzugs'-Lust besetzte, in der die Iraker entmentschlicht wurden, am meisten aber Muslime sich gegenseitig in Blut ertränkten, wo die alten christlichen Völker der Assyrer und Chaldäer ihrem eigenen Land entrissen wurden und die Jesiden einen neuen Genozid erlitten, kommt Papst Franziskus überaus spät. Weshalb die Reise wahrscheinlich noch mal mehr berührt. ... Wir wissen, dass es mehr als Hoffnung braucht. Der Irak wurde so sehr geschlagen, dass es einen langen und entschiedenen Kampf braucht, um das Trauma zu überwinden.“
Papst sucht Dialog auf Augenhöhe
Franziskus hat erkannt, worauf es im interreligiösen Gespräch ankommt, lobt Der Tagesspiegel:
„Akzeptanz, Respekt, Bescheidenheit. Er tritt – anders als sein Vorgänger Benedikt – nicht als neunmalkluger Islam-Exeget auf, der den Muslimen erklärt, wie sie ihren Glauben zu verstehen haben. Er maßt sich nicht an, aus islamischen Schriften direkte Handlungsanleitungen herauslesen zu können. Er versteht den Wunsch vieler Muslime, nicht einfach die abendländisch geprägte historisch-kritische Hermeneutik der Heiligen Schrift zu übernehmen. ... Wer religiös unmusikalisch ist, sieht bei einer solchen Reise nur freundliche Gesten und hört nur warme Worte. Alle anderen halten bewegt die Luft an.“
Mutiges Plädoyer für Religionsfreiheit
Die Reise des Papstes sollte nicht nur Christen aufhorchen lassen, findet The Times:
„Sie ist Ausdruck von Solidarität mit einer uralten Bevölkerung, die grausamer Verfolgung ausgesetzt ist. Aber mehr als das: Sie ist eine historische Botschaft, die von Idealen religiöser Toleranz zeugt. Und sie ist Symbol für die Überzeugung des Papstes, die er gestern gegenüber Gläubigen in Mossul artikulierte: 'Brüderlichkeit ist langlebiger als Brudermord.' ... Seine Mission im Irak ist ein Sonderfall. Kein Papst ist zuvor dorthin gereist. Er tat es mitten in einer globalen Gesundheitskrise, weil Aufschub unmöglich war. Seine Botschaft, dass die großen monotheistischen Glaubensrichtungen eine gemeinsame Pflicht haben, Religionsfreiheit zu verteidigen, ist von enormer Bedeutung. ... Sie sollte auch von den Regierungen respektiert und befolgt werden. “
Franziskus beweist erneut Courage
Libération findet den Papst äußerst mutig:
„Seine Pilgerreise beginnt in der antiken Stadt Ur, Wiege der Zivilisation und der Schrift, und Ausgangspunkt einer legendären Auswanderung. Von hier brach Abraham auf seinen Pilgerweg auf und war damit der erste Migrant. ... Allein diese politische und geistliche Herausforderung hätte vielen schon genügt, doch diese historische Reise hat noch mehr Facetten. In Nadschaf wird ein hoch riskantes Gespräch mit dem Groß-Ajatollah Ali al-Sistani stattfinden. ... Und in der Ninive-Ebene wird der Papst christliche Gemeinschaften treffen, die vor den Ausschreitungen der IS-Miliz geflohen sind. Laut Bibelüberlieferung ist es Jona, nachdem er dem Wal entkommen war, hier zu seiner großen Überraschung gelungen, alle Einwohner davon zu überzeugen, ihr Handeln zu bereuen. Das ist schwer zu toppen, aber dieser Papst hat sich nie für einen leichten Weg entscheiden.“
Damit schließt sich der Kreis
Die Reise zeugt von einem tiefen Wandel der Kirche, begeistert sich Historiker Andrea Riccardi in Corriere della Sera:
„Franziskus macht mit seiner Reise in den Irak einen ersten Schritt auf die Schiiten zu. Er besucht ihre wichtigste heilige Stadt, Nadschaf, und Groß-Ajatollah Al Sistani, die höchste schiitische Autorität [im Irak]. Hier gibt es, anders als bei den Sunniten, eine repräsentative Hierarchie und es wird - anders als bei den iranischen Schiiten - eine gewisse Trennung zwischen Religion und Politik praktiziert. … Damit schließt sich der Kreis der Kontakte von Papst Franziskus mit den verschiedenen muslimischen Traditionen. Viele Probleme bleiben offen, aber innerhalb weniger Jahre hat sich ein entscheidender Wandel in den Beziehungen zum Islam vollzogen - einer Welt mit vielen Gesichtern.“
Solidarität statt Vorsicht
Polityka unterstreicht die Bedeutung der Reise gerade während der Pandemie:
„Warum entschied sich der Vatikan für einen Besuch in einer so schwierigen Zeit? ... Die Antwort des Papstes lautet in etwa: Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht ich? Vatikan-Sprecher Matteo Bruni drückte es ebenso einfach aus: Franziskus' Besuch im Irak sei 'ein Akt der Liebe zu diesem Land, seinem Volk und seinen Christen'. Die Geste der Solidarität wog schwerer als pragmatische Vorsicht.“
Sehr begrenzter Einfluss
An einem positiven Effekt des Pontifex-Besuchs zweifelt L'Opinion:
„In einem halben Jahrhundert hat das Land die unbarmherzige Diktatur Saddam Husseins, den schrecklichen Krieg gegen den Iran, die beiden US-Interventionen (1991 und 2003) sowie das harte Embargo in der Zwischenzeit, den Zusammenbruch des Staats und den Bürgerkrieg erlebt, auf den die Errichtung des IS-'Kalifats' und dessen Zerstörung folgten. ... Die Spaltungen zwischen Schiiten, Kurden und Sunniten sind weiterhin heftig, die Korruption ist massiv und die Gewalt allgegenwärtig. Das Land ist Schauplatz der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran. Gewiss hat sich die Jugend 2019 stark mobilisiert, um Reformen wie im Libanon oder in Algerien zu fordern. Doch die Bewegung ist versiegt, und die wohlwollende Stimme Franziskus' wird leider kaum etwas an dieser Tragödie ändern.“