USA erkennen Völkermord an Armeniern an

"Wir gedenken all derer, die im Völkermord an den Armeniern während der Zeit der Osmanen gestorben sind", ließ US-Präsident Joe Biden zum 106. Jahrestag des Genozids verlauten und erkannte diesen damit wie angekündigt offiziell an. Die Türkei bestellte den US-Botschafter ein: Bidens Äußerungen hätten "eine Wunde" in die Beziehungen der Länder geschlagen. Kommentatoren finden mehrheitlich, dass Bidens Akt diese Wunde wert war.

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Tages-Anzeiger (CH) /

Sachlich richtig, politisch falsch

Die USA sollten die Beziehungen zur Türkei als strategischen Partner nicht derart gefährden, kritisiert der Tages-Anzeiger Bidens Verlautbarung:

„In der Türkei ist das Wort 'Genozid' ein Tabu. Das Massensterben der Armenier wird mit dem 'Verrat' militanter armenischer Rebellen erklärt, ... der Völkermord seit 100 Jahren in der Essenz bestritten. ... Bidens Klartext-Haltung ist Hinweis darauf, dass er im Umgang mit der Türkei auf Druck und Härte setzen will. Das belastet das ohnehin schon miserable Verhältnis zwischen den USA und der Türkei ... Sachlich hat Biden mit dem Wort vom Genozid fraglos recht. Politisch aber muss er die Türkei als Nato-Partner und Regionalmacht irgendwie dazu bringen, international nicht mehr bei jeder Gelegenheit querzutreiben.“

Polityka (PL) /

Biden riskiert nicht viel

Für Polityka hingegen gefährdet Biden die Beziehungen zur Türkei mit diesem Schritt nicht ernsthaft:

„Die Mitgliedschaft der Türkei in der Nato ist nicht bedroht. Ihre 'unabhängige' Außenpolitik hat der Türkei keinen Erfolg gebracht, und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie die wachsende Opposition gegen Erdoğans Diktatur im Land führen dazu, dass sie ausländische Hilfe braucht. Die Biden-Regierung hat also einen großen Einfluss und braucht die Türkei sicher weniger, als die Türkei die USA braucht.“

T24 (TR) /

Leugnen macht uns zu Mittätern

Begriffe sind nebensächlich - die Türkei muss die Verbrechen von 1915 endlich anerkennen, fordert die Schriftstellerin Oya Baydar in T24:

„Ist es ein Völkermord oder nicht, was hat Biden gesagt, wie hat sich Putin geäußert? All das ändert nichts an dem, was passiert ist. Aus Sicht aller Parteien in dieser Angelegenheit trägt es nicht zur Lösung, zum Frieden, zum Dialog zwischen den Völkern bei, die Sache auf ein Wort, auf die Terminologie zu reduzieren. ... Fakt ist, dass hier ein Verbrechen gegen das armenische Volk vorliegt. Daran bin nicht ich schuld, nicht Sie, nicht wir, nicht die gestrige oder die heutige Regierung. Aber wenn Sie 1915 leugnen, wenn Sie behaupten, es gebe keine Schuld in der Geschichte der Türken, dann verschleiern Sie, dulden Sie, übernehmen Sie die Schuld, die Sünde anderer.“

Habertürk (TR) /

Nun hat er's endlich gesagt

Jahr für Jahr darauf zu warten, ob der US-Präsident am 24. April das Wort Genozid aussprechen würde, war viel unangenehmer als die Situation jetzt, kommentiert Habertürk-Kolumnist Murat Bardakçı:

„Und was glauben Sie, passiert jetzt? Langfristig gar nichts! Selbstverständlich wird es uns die ersten Tage aufbrausen lassen, dass unser 'Freund und Verbündeter' Amerika die Türkei auf Präsidialebene als 'Völkermörder' darstellt, und die immer weiter steigende antiamerikanische Haltung hierzulande wird noch weiter zunehmen, aber nach einer Weile wird sich alles wieder entspannen. Doch immerhin sind wir jetzt eine Bedrohung, die seit Jahren über unserem Nacken hing und uns jedes Jahr im Frühling Herzrasen machte, los.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Spielregeln für die Türkei ändern sich

Das könnte ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem Westen und der Türkei sein, glaubt die Türkei-Korrespondentin Susanne Güsten im Tagesspiegel:

„Präsident Erdoğan hat bisher in der Annahme gehandelt, die Türkei sei für den Westen so unentbehrlich, dass selbst die Supermacht USA darauf achten müsse, sie nicht zu verärgern. ... Biden signalisiert jetzt: Die Türkei ist dabei, den Westen zu verlieren. Damit ändern sich die Spielregeln. Die US-Regierung setzt darauf, dass die Türkei keine Alternative zum Westen hat. ... Eine Folge des türkisch-amerikanischen Streits könnte eine stärkere Hinwendung von Erdoğan zur EU sein. Der türkische Präsident braucht mehr denn je starke Partner, die ihm aus der politischen Isolation heraushelfen.“

LB.ua (UA) /

USA tun sich damit keinen Gefallen

Biden treibt die Türkei in die Arme von Russland und China, glaubt hingegen lb.ua:

„Dabei steht hinter diesen Worten des amerikanischen Präsidenten nichts, auch keine Sanktionen. All dies wird jedoch eindeutig zu einer weiteren Verschärfung der Beziehungen zwischen Ankara und Washington führen. … Eines ist klar: Vor [diesem] Hintergrund wird der Druck auf Armenien durch die Türkei und ihre Verbündeten zunehmen. ... Und Biden muss Russland um Hilfe bitten, das in der Tat jetzt der einzige Garant für die Sicherheit dieses Landes ist. Die Türkei selbst wird sich aktiv Moskau und Peking annähern. ... Gut für Washington ist letzteres nicht.“

Corriere del Ticino (CH) /

Bruch mit bisheriger Doktrin

Die Worte beziehen sich im Grunde mehr auf die Gegenwart als auf die Vergangenheit, analysiert Corriere del Ticino:

„Die Verwendung des expliziten Begriffs Völkermord hat den Wert einer bewussten Stärkung einer präzisen transatlantischen Achse im libyschen Raum, mit dem Zweck, dem türkischen und russischen Einfluss entgegenzuwirken. Gleichzeitig will Biden vorbeugend klarmachen, dass er fest entschlossen ist, die destabilisierende Position Erdoğans in verschiedenen Regionen zu bekämpfen: im Kaukasus, im Nahen Osten, im Maghreb und auch auf dem Balkan. In diesem Sinne stellt Bidens Haltung sowohl eine Überwindung des politischen Realismus als auch einen entschiedenen Bruch mit der politisch-diplomatischen Doktrin der Vereinigten Staaten dar.“

Hürriyet (TR) /

Erst einmal an die eigene Nase fassen

Hürriyet ärgert sich über einen Tweet der prokurdischen Partei HDP, dass die Türkei den Völkermord an den Armeniern anerkennen sollte:

„Der Satz 'Ja, die PKK ist terroristisch' kommt ihnen nicht einmal über die Lippen. Nicht einmal! Doch dieselbe HDP trällert augenblicklich wie eine Nachtigall, wenn es um die umstrittenen Genozid-Vorwürfe geht. Und sie baut sich vor uns auf und fordert 'Na los, konfrontiert euch mit dem Völkermord!' ... Ja, aber du bist doch eine Partei, die sich nicht annähernd mit der Terror-Schande auseinandersetzen mag, die völlig offensichtlich ist und noch heute andauert. Woher nimmst du den Mut, die Türkei in einem immerhin höchst umstrittenen historischen Thema zur Konfrontation aufzufordern? Von Biden?“

Večernji list (HR) /

Begriff Genozid verliert an Gewicht

Manche Staaten bezichtigen andere des Genozids, um trotzdem munter mit ihnen weiterzuverhandeln, kritisiert Večernji list:

„Die USA und Großbritannien bezeichnen die Aktionen Chinas in Xinjiang als Genozid, vorgestern nannte die US-Administration auch das Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren so. Frankreich wurde vor einigen Jahren wegen seiner Rolle im Völkermord in Ruanda verurteilt und im benachbarten Bosnien und Herzegowina bezeichnen Politiker die Regierung der Republika Srpska als 'Genozidler'. Interessant: Regierungen, die sich untereinander des Völkermordes bezichtigen, arbeiten danach oft bei Fragen von größerer Bedeutung zusammen, was zum Verfall der Bedeutung einer Anklage wegen Völkermords führen könnte.“