"Freedom Day" in England: Jubel und Entsetzen
In England sind am Montag fast alle Corona-Restriktionen gefallen, häufig wird in den Medien vom "Freedom Day" gesprochen. Premier Boris Johnson appelliert an die Eigenverantwortung der Bürger - entgegen dem Rat vieler Experten, ist doch die Zahl der Infektionen zuletzt vor allem unter jungen Menschen stark angestiegen. Handelt die Regierung verantwortungslos oder weitsichtig?
Die falschen Regeln aufgehoben
Für den London-Korrespondenten des Handelsblatts, Carsten Volkery, entbehrt es jeder Logik, dass ausgerechnet die Quarantänepflicht bestehen bleibt:
„Im Unterschied zur Maskenpflicht hat diese Maßnahme ... ernsthafte Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Delta-Welle führt dazu, dass Hunderttausende Arbeitnehmer in Quarantäne müssen und wochenlang ausfallen. Erste Unternehmen sehen sich gezwungen, ihre Produktion oder ihre Öffnungszeiten einzuschränken. ... Tatsächlich wäre es besser gewesen, statt der Quarantäne die Maskenpflicht beizubehalten und die Nachtclubs geschlossen zu halten. Dann wäre zumindest ein wirtschaftlicher Nutzen der Lockerungen erkennbar gewesen. So muss Johnson sich vorwerfen lassen, die falschen Regeln aufgehoben zu haben.“
Sinnlose Isolierungsrichtlinien
Auch The Sun ist über die Quarantäneregelung irritiert:
„Wenn die Warn-App bei Mitarbeitern des Stromnetzbetreibers National Grid anschlägt, können diese einen Corona-Test machen. Und wenn dieser negativ ist, dürfen sie weiterarbeiten. Vermutlich weiß Covid, wie wichtig ihre Arbeit ist, und ist deshalb damit einverstanden, sich nicht über sie zu verbreiten. Auch zwei Mal geimpfte Mitarbeiter des Gesundheitsdienstes NHS sind, obwohl genau sie wohl das größte Risiko haben, mit infizierten Personen zusammenzukommen, nicht zur Selbstisolation verpflichtet. ... Die Gefahr, Covid zu verbreiten, verringert sich nicht, wenn jemand eine besonders wichtige Arbeit macht. Wenn das Risiko bei Arbeitskräften in Schlüsselbranchen vernachlässigbar ist, sollte das für alle gelten.“
Willkommener Testballon
Laut der regierungstreuen Sabah sollte die Türkei die Entwicklungen in England genau beobachten:
„Im Januar musste [dort] noch einer von 10 an Covid-19 Erkrankten im Krankenhaus behandelt werden und jede 60. Erkrankung endete mit dem Tod. Heutzutage ist das Risiko eines Krankenhausaufenthaltes nur noch für einen von 40 bis 50 Erkrankten gegeben. Das Risiko, zu sterben, liegt bei 1 zu 1000. Die englische Regierung ist zu ihrem Plan der 'kontrollierten Verbreitung' des Virus, der zu Beginn der Pandemie nicht funktioniert hat, zurückgekehrt. Wir haben jetzt also ein großes Pilot-Land. ... Wenn England erfolgreich ist, dann können wir das auch. Aber zuerst muss die Impfquote erhöht werden. Die, die sich nicht impfen lassen, obwohl sie an der Reihe wären, müssen überzeugt werden.“
Mutig und vernünftig
Kolumnistin Allison Pearson begrüßt in The Daily Telegraph den Wegfall der Corona-Regeln:
„Dass Beschränkungen oft kontraproduktiv sind, dürfte mittlerweile allen klar sein - außer vielleicht den Eierköpfen im [Beratungsgremium der Regierung] Sage. Dennoch wird die Rückkehr zum normalen Leben ständig als riskant statt als gesund und wünschenswert dargestellt. ... Die wahren Egoisten und Verantwortungslosen sind diejenigen, die versuchen, das normale Leben auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Ich denke, es ist unsere patriotische Pflicht, so frei und mutig wie möglich zu leben. Paradoxerweise ist genau das erforderlich, damit die Menschen gesund bleiben.“
So managt man Krisen
Die frühe Öffnung ist der Lohn für Großbritanniens entschlossenen Kampf gegen die Pandemie, zieht Le Figaro den Hut:
„Gewiss, der exzentrische Premier musste erst einmal auf der Intensivstation landen, um diesen Feind ernst zu nehmen. Doch gleich im Anschluss hat er ein Kriegskabinett eingesetzt. Es unterstützte die Universität Oxford im Wettlauf um einen Impfstoff, beauftragte ein Kommando aus der Privatwirtschaft mit dem Kauf der Impfdosen und die Armee Ihrer Majestät mit der Impflogistik. … Frankreich setzte im März den Einsatz von AstraZeneca aus und nährte so Zweifel an einer Maßnahme, die es heute zur Pflicht machen will. England stürzte sich zur gleichen Zeit in ein nationales Epos, das mit der Impfung des über 80-jährigen William Shakespeare (so etwas kann man nicht erfinden) eröffnet und mit Standing Ovations für die Forscherin Sarah Gilbert in Wimbledon abgeschlossen wurde.“
Frühe Öffnung scheiterte schon anderswo
Dramatische Folgen der Londoner Öffnungspolitik fürchtet Financial Times:
„Israel und die Niederlande führten bereits aufgehobene Corona-Beschränkungen wieder ein, nachdem sie einen solchen verfrühten Weg in die Freiheit eingeschlagen hatten. Masseninfektionen bergen das Risiko, Krankenhäuser zu überlasten, Belegschaften zu dezimieren, junge ebenso wie schwache Menschen der Krankheit auszuliefern und die Entstehung impfstoffresistenter Corona-Varianten zu begünstigen – all dies könnte zu weiteren Restriktionen und letztendlich weniger Freiheit führen. Ein solcher Weg bedeutet nicht, mit Covid19 leben lernen, sondern sich dem Virus zu ergeben.“
Erfolg könnte verspielt werden
Auch Der Tagesspiegel ist nicht überzeugt von Johnsons Strategie, jetzt schon ausschließlich auf die Eigeninitiative der Menschen zu setzen:
„Wenn die Pandemie eines gezeigt hat – sowohl in den 'Lockdowns' als auch jetzt, wo durch die Virus-Varianten die Anforderungen an die Impfquote gestiegen sind – dann ist es, dass eben sehr viele mitmachen müssen. In intakteren Gesellschaften mit höherem Vertrauen lässt sich das eher durch Eigenverantwortung organisieren. Doch je gespaltener eine Gesellschaft politisch und wirtschaftlich ist, desto mehr müssen Regierungen werben, anbieten, Regeln setzen. Die jüngere Geschichte Großbritannien spricht nicht dafür, dass Johnsons Weg eines lapidaren 'Get that jab' ausreicht, um die Bürger zu schützen. Gut möglich, dass das Land seine Erfolge wieder verspielt.“