Migrationsstrom nach Litauen: Eskaliert die Lage?
Seit der Entscheidung von Aljaksander Lukaschenka, Migrationsströme aus Protest gegen EU-Sanktionen nicht mehr zu unterbinden, sind so viele Flüchtlinge nach Litauen gelangt, dass Vilnius den Notstand ausgerufen und den Grenzschutz massiv verstärkt hat. Inzwischen kommt es in dem Land auch zu Anwohnerprotesten. Nun müssen Litauen, die Nachbarländer und die EU weitsichtig und taktisch klug reagieren, drängen Journalisten.
Das ist die Chance für unser Land
Litauen hat jetzt die einmalige Gelegenheit, seine Menschlichkeit unter Beweis zu stellen, meint der Leiter des Human Rights Monitoring Institute, Dainius Pūras in LRT:
„Es liegt in unserer Hand, ob diese Entwicklung zu Litauens Erfolgs- oder Misserfolgs-Geschichte wird. ... Viele Jahre war Litauen ein tolerantes Land, aber im Holocaust erlitt es einen schlimmen Zusammenbruch und machte bei der Vernichtung der Juden mit. Dazu kamen die Jahrzehnte des sowjetischen Experiments, die die litauische Gesellschaft demoralisierten. Ich sehe eine historische Chance, als Gesellschaft wirklich zu gesunden. ... Falls wir die Neuankömmlinge in Litauen entmenschlichen, droht die Entmenschlichung auch unserer selbst. Falls wir sie aber fördern, fördern wir auch unsere Gesellschaft.“
Die nächste Route führt über Lettland
Latvijas avīze warnt Lettland vor einer Verlagerung der Migrationskrise:
„Im Sommer 2015 baute Ungarn einen Zaun an den Grenzen zu Serbien und Kroatien, weil Tausende von Flüchtlingen aus der Türkei nach Europa strömten. … Es gibt keinen Zweifel, dass Litauen ebenfalls einen Zaun an seiner Grenze mit Belarus bauen wird. Und es ist selbstverständlich, dass die Flüchtlinge dann den einzigen offen gebliebenen Weg nach Europa finden werden – über die belarusische Grenze mit Lettland. Wie werden die Bewohner der dünn besiedelten Grenzregion reagieren, wenn nicht hunderte und nicht tausende, sondern zehntausende Flüchtlinge nach Lettland kommen? ... Werden sie ruhig bleiben oder in den Westen des Landes flüchten? Oder werden sie die Großmacht im Osten auffordern, sie zu verteidigen?“
Solidarität des Westens ist gefragt
Eesti Päevaleht fordert mehr Unterstützung für Litauen:
„Der Angriff des Lukaschenka-Regimes ist sehr gezielt. Auch wenn alles darauf hinweist, dass die Iraker als Waffe benutzt werden, kann man Menschen nicht als eine Masse betrachten. Der Asylantrag jedes Einzelnen muss geprüft werden, denn einige könnten tatsächlich Schutz benötigen. ... Wir sehen, dass die europäische Solidarität wichtiger ist denn je. Heute braucht Litauen Hilfe, in Zukunft vielleicht Estland. ... Am wichtigsten ist eine kraftvolle Demonstration der westlichen Solidarität. Vielleicht muss bald auch Artikel 4 des Nato-Vertrags angewandt werden, um Litauen zu helfen. Lukaschenka und seine Rückendeckung dürfen diesen Streit nicht gewinnen.“
Bumerang aus Vilnius
Gazeta Wyborcza sieht die Rücksendung der Asylsuchenden nach Belarus als kluge Reaktion:
„Lukaschenka will das Spiel mit den Migranten fortsetzen, um eine tiefgreifende Krise in Litauen und damit in der gesamten Europäischen Union zu provozieren. ... Wenn Vilnius jedoch konsequent ist und die Migranten trotz Lukaschenkas Drohungen zurückschickt, wird die Rückkehrerwelle zu einem schwierigen Problem für Lukaschenka selbst. Nun muss er die 'Touristen', die von der 'Zivilisation und Kultur' seines Landes fasziniert sind, aufnehmen, sie in Lagern unterbringen und unterhalten. Einige von ihnen werden wahrscheinlich ihr Glück in Russland versuchen, das von Belarus aus leicht erreichbar ist. Und das wird dem Kreml, der Angst vor Islamisten hat, nicht gefallen.“
Nur Decken schicken ist feige
Neatkarīgā kritisiert Brüssel:
„Es besteht die Möglichkeit, dass die EU weiter schläft und wie ein Bär im Schlaf seine Pranke lutscht. Nämlich, indem sie statt Sanktionen gegenüber Lukaschenkas Regime einzuführen, damit er die Operation mit den Flüchtlingen aus Bagdad bedauert, sich weiterhin feige benimmt und Zelte und Decken nach Litauen schickt, damit die Flüchtlinge nicht erfrieren müssen. Auf eine solche Reaktion hofft Lukaschenka. Uns bleibt nur zu hoffen, dass Lukaschenka nicht Recht haben wird.“
Jetzt hilft nur noch das MIlitär
Der Publizist Andrius Užkalnis fordert in Delfi, dass die Armee die Führung übernimmt:
„Offiziere prognostizieren, planen und prüfen die Information, bevor sie zu aktiven Handlungen mit Rüstung greifen. Die Politiker löschen nur die Brände und handeln chaotisch - genau das beobachten wir jetzt. Das Problem liegt darin, dass die Zivilisten und die Leute in der Regierung, die nicht speziell militärisch ausgebildet sind, oft keine Antwort auf die Fragen wissen, weil ihnen diese Fragen nicht einmal einfallen. … Qualifizierte und systematisch denkende Menschen in Uniformen würden uns in diesem Chaos richtig helfen, damit im Frühling hier immer noch Litauen ist und nicht ein Kriegsfeld mit Flüchtlingszelten, Feuer und Partisanen in den Wäldern.“
Polen unterstützt die Panikmache
Der polnische Journalist Karol Wilczyńsk kommentiert auf Lrt, dass die Situation in Litauen an die Flüchtlingskrise in 2015 und Polens Verhalten erinnert:
„Die Tatsache ist die, dass in Litauen, wie in vielen EU Ländern in 2015, viele Politiker eine Panikmache-Kampagne starteten. Ein Unterschied jetzt liegt darin, dass sie auch Unterstützung aus dem Ausland bekommen, besonders aus Polen. So eine ähnliche Kampagne hatte für die PiS in Polen in 2015 einen Erfolg gebracht.“
Es kann jederzeit knallen
Maria Avdeeva von der ukrainischen Organisation European Expert Association und Redakteur Jurij Pantschenko warnen in Ukrajinska Prawda vor der Brenzligkeit der Situation:
„Der belarusische Grenzschutz hat schon erklärt, dass Litauen unter Androhung von Gewalt und Waffengebrauch Migranten nach Belarus zurückweise, und Lukaschenka hatte der EU gedroht, an der Grenze könnten auch bewaffnete Migranten auftauchen. Litauen wiederum erklärt, dass man jeden zurückschicken werde, der illegal ins Land gekommen sei. In so einer Situation kann es an der Grenze jederzeit zu einer Provokation oder künstlich organisierten bewaffneten Auseinandersetzungen kommen.“
Vilnius' Rückgrat ist bewundernswert
Litauens klare Linie gegen die autokratischen Nachbarn verdient nicht nur Hilfe, sondern auch großes Lob, findet La Repubblica:
„Seit einiger Zeit ist die Diplomatie von Vilnius die fortschrittlichste in Europa in der Konfrontation mit den Regimen von Putin und Lukaschenka. In Vilnius leben immer mehr russische Dissidenten, und seine geografische Lage zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Belarus ist für das Atlantische Bündnis von strategischer Bedeutung für die Bewachung der Grenzen des neuen 'Eisernen Vorhangs'. Litauen hat [der ins Exil geflohenen Oppositionspolitikerin] Swetlana Tichanowskaja den diplomatischen Status eines 'offiziellen Gastes' zuerkannt und ist bereit, eine belarusische Exilregierung in Vilnius anzuerkennen, falls die Oppositionsführerin beschließt, diese einzusetzen.“
Noch einen Schritt weiter als Erdoğan
Wsgljad sieht die Situation als gefährlichen Präzedenzfall für politische Erpressung durch gelenkte Flüchtlingsströme:
„Pionier auf diesem Weg war der türkische Präsident Erdoğan, der eine Flüchtlingswelle in eine Waffe verwandelte. Und weitgehend bekam, was er wollte: Europa begann, sich freizukaufen, und ließ sich auf einen Deal mit Ankara ein. ... Aber die Türkei war schon Transitland. ... Lukaschenka ist weitergegangen: Er hat diese Krise organisiert und stimuliert. Wenn die EU keine effektive Gegenwehr findet oder gar Zugeständnisse macht, wird die Methode des gezielten Migrantenschlags als erfolgreich anerkannt werden. Was bedeutet, dass sie auch bei anderen interessierten Ländern ins politische Arsenal eingehen wird.“
Rassismus zu lange ignoriert
Die Leiterin des Litauischen Zentrums für Menschenrechte, Jūratė Juškaitė, zeigt sich auf Delfi nicht überrascht über die Proteste:
„Lange Zeit sagte man, da es in Litauen keine Schwarzen gebe, gebe es auch keinen Rassismus. … Vergangenen Sommer gab es eine Welle der Empörung, als vor allem junge Leute in Vilnius einen Black-Lives-Matter-Protest veranstalteten, um Solidarität mit Schwarzen zu zeigen, die übermäßige Polizeigewalt erlebten. ... Jahrelang hat man ein Auge zugedrückt, wenn es um Rassismus und die mangelnde Akzeptanz von Menschen ging, die anders sind. Das Thema wurde als unseriös und marginal angesehen, obwohl mehrere Umfragen klar darauf deuteten, dass wir viel mehr mit unserer Gesellschaft darüber reden müssen. Ein paar Kultur- und Bildungsprojekte, die schnell in Schubladen landeten, um zeigen zu können, dass irgendwas gemacht wurde - und Haken drunter.“
Regierung hat sich Proteste selbst zuzuschreiben
Was mit den Flüchtlingen passiert, entscheidet Vilnius über die Köpfe der Bevölkerung hinweg, kritisiert LRT:
„Leider ignorierte die Regierung Lukaschenkas Aussagen zu den Migranten lange und bereitete sich nicht vor. Deshalb werden die Entscheidungen jetzt in letzter Sekunde getroffen, ohne Absprachen mit den Gemeinden. ... Das klarste Beispiel - die Situation in Dieveniškės. Man kann es nun wirklich nicht verstehen, wieso diese Gemeinde zwei Wochen nichts von dem Plan wusste und erst aus den Medien mitbekam, dass die Migranten hier untergebracht werden sollen. Noch absurder war das Verhalten der Beamten, die mit starker Polizeieskorte in der Kleinstadt ankamen und wohl angsteinflößend wirken sollten. Und das nennt man nun Dialog. Klar werden die Menschen wütend. Hier geht es nicht um Rassismus, sondern um die Arroganz der Regierung.“
Lukaschenka trollt die Balten auf hohem Niveau
Der lettische Journalist Juri Alexejew zeigt sich in Wsgljad beeindruckt, wie geschickt Lukaschenka mit dem Migranten-Transit seine Nachbarländer destabilisiert:
„Die Letten blicken auf das Geschehen [in Litauen] mit infernalischem Schrecken. Auch Lettland hat mit Belarus 200 Kilometer Grenze, aber sie ist weiter weg von Polen als die litauische. Das schützt sie noch. Noch. 'Batka' [Lukaschenka] ist ein Pfundskerl. Oder wie die heutige Jugend es sagen würde: ein 'Troll auf Level 80'. Moderne Geopolitik ist ständiges, unverhohlenes Trolling. Batka spielt nach ihren Regeln und gewinnt. Nach dem Prinzip: Ihr habt mir hier alles zerschlagen und maidanisiert - aber dafür organisiere ich euch einen Maidan, dass ihr mit den Ohren schlackert.“