Bundestagswahl: SPD auf der Überholspur
Vorletztes Wochenende zogen CDU/CSU und SPD in den Umfragen erstmals seit 2017 wieder gleich. Nun setzt sich der Abwärtstrend für die Union knapp vier Wochen vor der Wahl sogar fort. Die SPD mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz kommt auf bis zu 25 Prozent, CDU/CSU erreichen teils nur 21 Prozent, die Grünen bis zu 18 Prozent. Europas Presse spekuliert, was die Folgen eines SPD-Wahlsiegs wären.
Nach Mutti kommt Vati
Olaf Scholz ist der größte Trumpf in den Händen der SPD, glaubt The New Statesman:
„Der beste Beweis dafür ist sein Auftreten als eine Art Merkel-Kontinuum. ... Merkels ruhige Solidität spricht ein Land an, das in relativem Komfort lebt und seit Langem auf Stabilität setzt. Dieser Stil liegt auch Scholz im Blut, einem trockenen, sanftmütigen und zurückhaltenden Norddeutschen. ... In der TV-Debatte vom 29. August übertrieb er es damit fast. Wo Laschet und Baerbock schossen und stritten, taktierte er, gab freundlich Allgemeinplätze zum Besten und präsentierte sich als vertrauter, erfahrener und vernünftiger Mittelweg zwischen den beiden anderen. Immerhin hat er nicht eins von Merkels kantig-farbigen Jackets getragen. Ansonsten hätte er wohl nur wenig mehr tun können, um die Parallelen zwischen ihnen beiden zu betonen.“
Es droht ein drastischer Kurswechsel
Gazeta Wyborcza hält ein linkes Regierungsbündnis für eine realistische, aber nicht gerade erbauliche Perspektive:
„Gemäß Parlamentsarithmetik wird Scholz im Falle eines Wahlsieges nicht nur einen, sondern zwei Koalitionspartner brauchen. Die Linke könnte die dritte Säule einer solchen Koalition bilden, vorausgesetzt, sie gewinnt noch ein paar Prozentpunkte hinzu. ... Eine solche Regierung würde einen bedeutenden Kurswechsel in der deutschen Politik markieren. Nicht nur in Richtung großzügigere Sozialpolitik oder ambitionierter Klimaschutz, sondern vor allem auch, was die Außenpolitik betrifft. Die Linke lehnt die Nato ab, ist gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen, und einige Politiker der Partei verehren Wladimir Putin und sehnen sich offen nach den Zeiten der DDR zurück. Diese Haltung würde sich in irgendeiner Weise wohl im Regierungsprogramm niederschlagen.“
Linke muss ja nicht das Außenministerium bekommen
Auch hvg hält eine Koalition mit Die Linke durchaus für möglich:
„Es gibt genug Argumente für die Koalitionsunfähigkeit der Linken: Die Partei ist konsequent gegen die Nato und die Teilnahme deutscher Soldaten an jeglichen Auslandseinsätzen. Das heißt, man sollte ihnen bei eventuellen Koalitionsverhandlungen wohl nicht das Außenministerium oder das Verteidigungsministerium anbieten. Jedoch könnte die Linke - angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheiten - ihre Energie in einem der sozialen Ressorts bündeln. Es kann also noch alles Mögliche passieren.“
Der Stern könnte rasch verglühen
Dass die SPD in den Umfragen zuletzt zugelegt hat, sollte nicht überbewertet werden, meint The Irish Times:
„Fünf Wochen sind in der Politik eine Ewigkeit, und die SPD weiß, wie es ist, wenn Hoffnungen enttäuscht werden. Vor vier Jahren war der SPD-Messias nicht Olaf Scholz, sondern Martin Schulz. Der ehemalige EU-Parlamentspräsident setzte zunächst zu einem Höhenflug an, doch in der Wahlnacht stürzte er mit nur 20,5 Prozent ab. Die SPD liegt derzeit nur drei Prozentpunkte über diesem historisch katastrophalen Ergebnis, und Olaf Scholz weiß, dass er von Armin Laschets derzeitiger Schwäche mindestens genauso profitiert wie von seiner eigenen neu gewonnenen Stärke.“
Scholz wäre gut für Europa
Ein Sieg von Olaf Scholz wäre eine sehr gute Nachricht für Europa, findet die Berlin-Korrespondentin Tonia Mastrobuoni in La Repubblica:
„Immer wieder hat er eine Vermittlerrolle in Europa übernommen, auch gegen die rigorosen Vorhaltungen der Sparsamen. Und als das Konjunkturprogramm auf den Weg gebracht wurde, sprach er von einem 'Hamilton-Moment', von einer außergewöhnlichen Annäherung in Europa [in Anlehnung an den ersten US-Finanzminister Alexander Hamilton im Jahr 1790]. Aus Gesprächen geht hervor, dass Scholz als Kanzler viel pro-europäischer wäre, als dies seine Slogans, Interviews und Wahlauftritte vermuten lassen.“
Inhaltsleer wie eine Dating-Show
Deutschlands Öffentlichkeit ist fünf Wochen vor der Wahl total unpolitisch, beobachtet Die Presse:
„Der deutsche Wahlkampf wirkt von außen betrachtet wie eine dieser Schönheits- oder Dating-Shows der deutschen Privatsender, nur ohne Schönheit und Dates. Seit Monaten wird mit seltsamer Inbrunst fast nur über Fehler, Sünden und Fettnäpfchen von mehr oder weniger schwachen Spitzenkandidaten diskutiert, als gäbe es weder Klimawandel, Pandemie noch eine erwartbare Schuldenkrise. ... Deutschland hätte ein großes inhaltliches Thema: In der Pandemie zeigte sich, dass Verwaltung, zum Teil das Gesundheitswesen und der Bildungsbereich enormen Modernisierungsbedarf haben. Ausgerechnet die größte Volkswirtschaft hinkt bei der Digitalisierung hinterher.“