Diplomatie mit den Taliban: Geht es nur noch ums Wie?
Vor knapp einer Woche ist das Ultimatum der Taliban zur Evakuierung der westlichen Kräfte aus Afghanistan abgelaufen. Nun haben sich die 27 EU-Außenminister auf gemeinsame "Prüfsteine" für die erwartete Regierung in Kabul geeinigt. Wenn die erfüllt würden, könne Geld fließen. Während sich einige Kommentatoren verwundert die Augen reiben, machen andere klar, wie die Prüfsteine aussehen sollten.
Erst kapitulieren, dann kooperieren
Über die Verhandlungsbereitschaft der Europäer kann sich Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope nur wundern:
„Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen! Die Europäer werden aus Kabul verjagt – und wollen schon wenige Tage später mit den islamistischen Siegern zusammenarbeiten und ihnen auch noch die Bedingungen diktieren? Man reibt sich die Augen. Nicht ein Außenminister hat es gewagt, die Hauptverantwortlichen für das Debakel – die USA – zu kritisieren. Niemand kam auf die Idee, dass nun die Amerikaner die Scherben zusammenkehren müssten. Nein – die EU will es richten, denn sie hat Angst vor Flüchtlingsströmen.“
Frauen an den Verhandlungstisch
Die Bedingung, um überhaupt mit den Taliban zu sprechen, muss uneingeschränkt gleiches Recht für Frauen sein, stellt die taz klar:
„Das bedeutet erstens, dass diese Verhandlungen keine unter Männern werden dürfen. Die Taliban müssen von vornherein akzeptieren, was gleiche Rechte bedeuten: Frauen sitzen mit am Verhandlungstisch. ... Zudem müssen Frauenrechtlerinnen und ihre Angehörigen als besonders schutzbedürftige Personen eingestuft werden. ... Sie brauchen sichere Wege, um das Land verlassen, und Aufnahmeprogramme, um anderswo sicher leben zu können. Und schließlich müssen für afghanische Frauen die Grund- und Menschenrechte gelten.“
Nichts überstürzen
Türkische Diplomaten und Geheimdienstler haben bereits erste Gespräche mit den Taliban geführt. Diese Eile ist problematisch, findet Journalistin Barçın Yinanç auf T24:
„Natürlich sind die Taliban der wichtigste Akteur im Land und natürlich muss man die Gesprächskanäle offen halten. Doch werden nun die anderen ethnischen Gruppen des Landes, die sich der Türkei seit Jahren nahe fühlen, ignoriert? Wird die Türkei nun nicht mehr in die Augen der Frauen und Männer blicken, die sich vor dem repressiven Regime der Taliban fürchten? ... Ich stimme auch nicht mit denen überein, die die Ansicht vertreten 'Man muss sich mit den Taliban arrangieren, um keine Investitionsmöglichkeiten zu verpassen.' Es ist nicht klar, ob das Land kurzfristig die nötige Stabilität erreichen wird. ... Vielmehr sollte man eine grundsätzliche Haltung gegenüber den Taliban einnehmen, die auf fundamentalen Werten basiert.“
Eine Chance für die Uno
Die Vereinten Nationen sollten eine wichtige Rolle in Afghanistan übernehmen, findet der ehemalige Uno-Diplomat Victor Ângelo in Diário de Notícias:
„Guterres sollte die Initiative ergreifen und Verhandlungen mit den Taliban aufnehmen. Sie müssen sich orientieren an den Menschenrechten und den Verpflichtungen, die Afghanistan an die Gemeinschaft der Nationen binden. ... Die Uno ist vor allem eine politische Organisation. Sie sollte nicht nur eine humanitäre oder entwicklungspolitische Agenda verfolgen. Natürlich sollte sie eine vollständige und kohärente Antwort geben, die diese Dimensionen umfasst. Doch ihr Motor sollte politisch sein. Und die neue Taliban-Herausforderung gibt der Uno die Chance, ihre eigene Geschichte wiederzufinden und ihr Image zu schärfen als ein unverzichtbarer Protagonist der internationalen Beziehungen.“
Ohne Kontrolle keine Regierung
Viele offene Fragen skizziert La Stampa:
„An erster Stelle steht die Frage, ob die Taliban bereit sind, mit den Regierungen zu verhandeln, die sie bekämpft haben. Sind sie interessiert? Und welches Interesse verfolgen sie? In welchen Bereichen sind sie jetzt oder später zu Diskussionen und Zugeständnissen bereit? Welche Gegenleistung würden sie verlangen? Welches Gewicht werden die wirtschaftlichen Bedürfnisse des neuen Regimes haben, oder ein mögliches Streben nach internationaler Legitimität? Zweitens müsste man wissen, ob die Taliban jetzt oder später ein gewisses Maß an Kontrolle über das Territorium und die wesentlichen staatlichen Institutionen gewährleisten, das den Mindestanforderungen an eine Regierung entspricht - unabhängig von der formellen Anerkennung durch andere Staaten.“
Machterhalt schafft Tatsachen
Politologe Ilja Kusa schließt auf Hromadske Radio eine Anerkennung der Taliban-Regierung durch westliche Staaten nicht aus:
„In den neunziger Jahren erkannten drei Länder die Taliban offiziell an und eröffneten entsprechend ihre Botschaften: Pakistan, Saudi-Arabien und Katar. Im Westen wird das schwieriger werden, weil es dort eine öffentliche Meinung, Widerstand und Kritik gibt. ... Doch wenn die Taliban die Macht behalten und die bisherigen Versprechen einhalten, wird das möglicherweise schon ausreichen, um von westlichen Ländern anerkannt zu werden und zumindest teilweise von außen eine Legitimität zu erhalten.“
Anerkennung käme Kapitulation gleich
Népszava fürchtet die Selbstaufgabe des Westens:
„Kann die Regierung einer Terrorgruppe anerkannt werden, gegen die wir zwei Jahrzehnte lang gekämpft haben, und die im 21. Jahrhundert eine Gesellschaft aufbaut, die rechtloser ist als die im dunkelsten Mittelalter? ... Die Frage ist nun, ob die Taliban im Hinterzimmer belassen werden oder ohne weitere Bedingungen in den Klub der zivilisierten Welt aufgenommen werden. Wenn ja, würde das die Kapitulation des Westens vor den Islamisten sein.“
Schweren Herzens an den Verhandlungstisch
An den Taliban führt leider kein Weg vorbei, glaubt The Observer:
„Es ist dringend erforderlich, Wege zu finden, um mit einem im Entstehen begriffenen Taliban-Regime ins Gespräch zu kommen, das zwar gut darin war, einen Aufstand anzuführen, aber keine Ahnung hat, wie man ein Land regiert. Diplomatische Beziehungen jedweder Art werden nötig sein - schon allein, um sicherzustellen, dass künftige Hilfsangebote auch wirklich die Bedürftigsten erreichen. Die Zusammenarbeit mit den Taliban wird außerdem erforderlich sein, um die Terrormiliz Islamischer Staat in Zaum zu halten und zu verhindern, dass diese und Terroristen von außerhalb Afghanistans als Basislager für den internationalen Dschihad nutzen. Das ist alles schwer verdaulich, aber unvermeidbar.“