EU-Vorsitz und Wahlkampf: Macron zeigt Flagge
Zu Beginn von Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft ließ Macron über den Jahreswechsel eine EU-Flagge am Pariser Arc de Triomphe hissen. Da ihr keine französische Trikolore zur Seite stand, kritisierte die konservative und rechte Opposition dies als Anschlag auf die nationale Identität. Europas Presse diskutiert dies auch in Hinblick auf die französische Präsidentschaftswahl im April.
Taktisches Missgeschick
Macron hat sich mit der Beflaggung des Triumphbogens keinen Gefallen getan, glaubt Slate:
„Mit dieser Beflaggung wird der scheidende Präsident keine föderalistischen Stimmen gewinnen, da diese bereits alle Macron-Anhänger sind. Dafür könnte die Aktion den Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs stören und der künftige Kandidat könnte einen Teil der Wählerschaft verlieren, die es nicht mag, wenn man mit ihren Traditionen und Symbolen spielt. Insbesondere wenn es scheint, dass es nur darum geht, Aufmerksamkeit zu erregen.“
Ohne Bleu-Blanc-Rouge geht es eben nicht
Franzosen schmerzt es eben, wenn die EU-Flagge so ganz alleine weht, erinnert Kolumnist Luuk van Middelaar in NRC Handelsblad:
„Dieses symbolpolitische Geplänkel erinnert Macron daran, dass die französische Liebe für Europa Grenzen hat. Frankreich in Europa, dafür gibt es viel Unterstützung, aber nicht für ein Europa ohne Frankreich. Daher künftig besser beide Flaggen nebeneinander. Zugleich zeigt sich so schon am ersten Tag, dass dieser französische EU-Vorsitz nicht losgelöst zu sehen ist von der kommenden Präsidentschaftswahl im April. ... Macron sieht Europa als Raum der Kultur und Zivilisation und sucht Verbindung mit Künstlern, Autoren und Intellektuellen. Daher auch die Flaggen.“
Gold und Blau stehen jetzt für Widerstand
Wie wichtig es für Europa ist, Flagge zu zeigen, betont der Philosoph Bernard-Henri Lévy in Le Point:
„Das Gegen-Imperium Europa ist die einzige ernsthafte, angemessene und glaubwürdige Antwort auf den Aufstieg der Mammuts des neo-russischen und neo-chinesischen Imperialismus. ... Europa ist keine Nation. Seine Flagge, die für die liberale Demokratie steht, löscht nichts anderes aus und schwört keinen Meineid. Aber sie ist ein Zeichen der Verbundenheit derjenigen, die sich nicht mit ihrem angekündigten Ausscheiden aus der Geschichte abfinden wollen. Emmanuel Macron hatte Recht: Indem wir einen Ort, der für die Größe Frankreichs steht, in Gold und Azurblau beflaggen, beweisen wir unsere Vitalität und unseren Widerstand.“
Chance für Macron und Morawiecki
Rzeczpospolita sieht in der französischen Ratspräsidentschaft eine günstige Gelegenheit für Polen, den Rechtsstaatskonflikt mit der EU beizulegen:
„Ein großer Teil der französischen Wählerschaft ist stark europaskeptisch geworden und drückt der Mannschaft von Mateusz Morawiecki in der Auseinandersetzung mit Brüssel die Daumen. Die Beilegung dieses Streits würde Marine Le Pen, Eric Zemmour und Valérie Pécresse - den gefährlichsten Rivalen des derzeitigen Staatschefs - Wind aus den Segeln nehmen. In einer Zeit, in der Frankreich für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft innehat, könnte Macron einen solchen Erfolg als Beweis dafür verkaufen, dass die Franzosen immer noch in der Lage sind, die EU effizient zu führen.“
Paris könnte in Führung gehen
Wenn er die Chancen richtig nutzt, kann Macron eine starke Ratspräsidentschaft leisten, findet El País:
„Frankreich tritt die Präsidentschaft in dem Wissen an, dass 2022 'ein Wendepunkt' für Europa sein wird. ... Wie Deutschland ist Frankreich in der Lage, eine starke Führungsrolle zu übernehmen, indem es das während der Pandemie entstandene europäische Reaktionsmuster als Modell und Hebel auch für digitale und ökologische Investitionen nutzt. Allerdings könnte Macrons Mandat durch die französische Wahl oder die Verbreitung der Omikron-Variante erschwert werden. Um den Vorwurf zu vermeiden, dass er die französische Ratspräsidentschaft für seinen Wahlkampf ausnutzt, braucht er schon mehr als nur politische Kühnheit.“
Zuhause mit Europa punkten?
Macron will Erfolg in Europa im Wahlkampf ausnutzen, meint De Volkskrant:
„In fast allen Bereichen bewegt sich Europa in Richtung Frankreich. Mehr politische Leitung, mehr Investitionen. Die Zeit des fröhlichen Freihandels ist vorbei, die der großen Politik kehrt zurück. ... Macron hat Rückenwind. ... Am Ende von Macrons erster Amtsperiode muss die Botschaft sein, dass Frankreich in Europa viele Fortschritte verbucht hat. Aber bringt Erfolg in Europa auch Stimmen? Frankreich ist in den letzten Jahren viel rechter geworden. ... Keiner der rechten Kandidaten ist für einen Frexit. ... Aber genau wie viele französischen Wähler finden sie die französische Identität wichtiger als europäische Zusammenarbeit. “
Macrons Offensive ist nicht ohne Risiko
Der französische Präsident setzt für seine Wiederwahl auf Europa als Trumpfkarte, beobachtet Der Standard:
„Wie es aussieht, hat Macron sich einen Europa-2.0-Wahlkampf vorgenommen. Es gibt kein wichtiges Thema, bei dem er die Partner nicht antreiben will. Migrationspaket, Verteidigungsgipfel, Reform des Eurostabilitätspakts, EU-Sozialoffensiven, Mindestlohn, Vertragsreformen, Wirtschaftsankurbelung und, und, und. Volle Kraft voraus mit Europa! Die Offensive ist nicht ohne Risiko. Aber Macron kann davon ausgehen, dass die Franzosen am Ende auf Europa bauen. Ob er dann auch widerspenstige EU-Partner überzeugen kann? Diesen Beweis muss er in Brüssel erst antreten.“
Auch im Süden gibt es zwei europäische Lokomotiven
Dass bei der Führung der EU oft nur von der Zweierachse Paris-Berlin die Rede ist, nervt El País:
„Frankreich und Deutschland sollten durch Italien und Spanien ergänzt werden, da dieses Viereck die wichtigsten Elemente der Union zusammenfasst und etwa zwei Drittel ihrer Wirtschaft und Bevölkerung ausmacht. ... Zuletzt haben einige europäische Staats- und Regierungschefs Korruptions- und Geldwäschefälle eingeräumt, die ihre Führungskräfte in Misskredit brachten und zu deren Ablösung führten. ... Angesichts dieser Tatsachen erscheint es ratsam, die Verhärtung der Positionen und die Zersplitterung der Union zu vermeiden. Die Vorarbeit in einem solchen Viereck der wichtigsten EU-Länder verspricht bessere Ergebnisse. Spanien bietet sich diskret und sachdienlich für diese interne Logik an.“