Baerbock in Moskau: Klare Kante oder leere Drohung?
Bundesaußenministerin Baerbock hat am Dienstag ihren russischen Amtskollegen Lawrow in Moskau getroffen. "Wir haben keine andere Wahl, als unsere gemeinsamen Regeln zu verteidigen, auch wenn dies einen hohen wirtschaftlichen Preis hat", warnte sie Russland mit Bezug auf die EU vor einem Einmarsch in die Ukraine. Kommentatoren fragen sich, wie sich Deutschland im Ernstfall tatsächlich verhalten würde.
Deutliche Worte, aber keine Konfrontation
Trotz ihrer Unerfahrenheit bietet die neue deutsche Außenministerin Russland die Stirn, zeigt sich tagesschau.de beeindruckt:
„Wer dachte, diese Baerbock, die nicht mal zwei Monate im Amt ist, werde von Außenminister Lawrow, der 18 Jahre andere auf der Weltbühne hat kommen und wieder gehen sehen, vorgeführt, der irrte gewaltig. ... Baerbock betonte ... das Gemeinsame mit Moskau, streckte die Hand aus, verschwieg aber nicht das Trennende. Nawalny. Auftragsmord auf deutschem Boden. Bedrohte Menschenrechte in Russland. Lawrow, der demütigen kann, wenn er will, stand daneben und hörte zu.“
Scholz' Klarstellung war überfällig
Baerbocks souveräner Auftritt alleine wird nicht reichen, um Eindruck zu machen in Moskau, betont die Süddeutsche Zeitung:
„Nötig ist eine geschlossene Position der Bundesregierung und der Ampel-Koalition Russland gegenüber. Nicht ohne Grund muss sich die Außenministerin fragen lassen, ob es in Berlin eine solche Haltung zu Nord Stream 2 gibt, dem wohl wichtigsten Druckmittel, über das Deutschland verfügt. Wenn Lawrow fordert, das Projekt nicht zu politisieren, kann er sich in den Reihen der SPD auf Zustimmung verlassen. Überfällig und wichtig war daher die Klarstellung von Kanzler Olaf Scholz an der Seite des Nato-Generalsekretärs, dass auch Nord Stream 2 infrage steht, wenn Russland ein weiteres Mal die Ukraine überfällt.“
Ein heikles Druckmittel
Berlin spielt die Pipeline-Karte, wenn auch widerwillig, beobachtet die Wiener Zeitung:
„Unter dem Druck der Partner steht jetzt auch die Zukunft der Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas nach Deutschland pumpen soll ..., wieder zur Disposition. Wenn Putin losmarschiert, ist das fertige Milliardenprojekt gestorben. Das kann Putin nicht wollen und Berlin noch weniger. Die Frage ist: Hält das Putin von einer Offensive gegen Kiew ab oder treibt es Deutschland in zu große Zugeständnisse an Moskau? Putin weiß, dass die meisten Menschen im Westen drängendere Probleme haben als eine Konfrontation mit Russland - und nicht nur sie, sondern auch ihre Regierungen. Dieser Eindruck verleitet zu gefährlichen Fehlkalkulationen.“
Deutschlands Grüne in der Zwickmühle
wPolityce glaubt nicht, dass die Ukraine-Krise für Baerbocks Partei ganz oben auf der Prioritätenliste steht:
„Natürlich könnten die Grünen aus Protest gegen Nord Stream 2 und die Appeasement-Politik gegenüber Russland die Koalition verlassen, aber sie werden dies nicht tun. Schließlich ist das russische Gas ein wichtiger Bestandteil der Energiewende jenseits der Oder, es garantiert Deutschland eine stabile Stromversorgung nach der Abschaltung der Atomkraftwerke, in der Übergangszeit, auf dem Weg zur Klimaneutralität. Und für diesen Übergang sind die Grünen in dieser Regierung. Deutschland hat sich aus freien Stücken von Russland abhängig gemacht, jetzt muss es Russland besänftigen. Wie Baerbock in Kiew betonte, ist Berlin in der Außenpolitik 'sehr geduldig'.“
Zu viel Desinteresse für einen Beinahe-Krieg
Die mächtigsten Leader der EU verkennen, wie brenzlig die Situation ist, wundert sich Večernji list:
„Europa war nie näher am Krieg seit dem Zerfall Jugoslawiens. Und das nur, weil man in Brüssel und Berlin der Situation in der Ukraine schon wieder hinterherhinkt und in Paris praktisch gänzlich uninteressiert ist. Dabei sitzt Frankreich gerade der EU vor und man erwartet von Emmanuel Macron konkrete Züge in Richtung europäische Einheit, die die Union in eine geopolitische und nicht nur eine wirtschaftliche Macht verwandeln sollen. Und der deutsche Kanzler Scholz fand offenbar, es sei nützlicher für ihn, den Konflikt mit dem spanischen Premier Sánchez über Fiskalregeln zu lösen, als nach Kyjiw oder Moskau zu reisen.“
Hier prallen zwei Welten aufeinander
Rzeczpospolita glaubt nicht an einen Verhandlungserfolg der deutschen Außenministerin:
„Das Treffen zwischen Baerbock und Lawrow ist im Kern ein Treffen zweier Politikern aus völlig unvereinbaren Welten. Bei dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen den USA, China und Russland geht es im Grunde um eine Neuordnung der Welt, die nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Im Gegensatz zu den Entscheidungsträgern in Washington, im Kreml oder in Peking ist das Ende des Kalten Krieges für die immer jüngeren Politiker in Westeuropa längst Geschichte. Für sie sind das Klima oder der Kampf für Frauenrechte ungleich wichtigere Prioritäten als die Abrechnung mit der Vergangenheit. Es ist jedoch nicht schwer vorherzusagen, welche dieser beiden Welten sich heute durchsetzen wird.“
Berlins Regierung ist uneinig
Ria Nowosti unterstreicht die internen Differenzen in der deutschen Russlandpolitik:
„In der neuen Koalition geben nicht die offen proatlantischen Grünen von Baerbock den Ton an, sondern die SPD von Kanzler Scholz. ... Die Sozialdemokraten als einstige Architekten der für beide Seiten gewinnbringenden 'Ostpolitik' versuchen, Unvereinbares miteinander zu vereinen: den von den Atlantikern angewandten harten Druck auf Russland und den Wunsch, vielfältige Beziehungen zu den Russen zu pflegen.“